Süddeutsche Zeitung

Schwaigermoos:Wie zwei Frauen die Erinnerung an Schwaigermoos wachhalten

Nahe Freising liegt ein Geisterdorf: Schwaigermoos wurde verlassen, als der Flughafen kam. Doch zwei frühere Einwohnerinnen halten die seit Jahrzehnten versprengte Bauerngemeinschaft zusammen.

Von Philipp Bovermann

Abgesiedelt. So heißt das nüchtern im Behördendeutsch, was Schwaigermoos passiert ist. Die ein Stück östlich von Attaching gelegene Bauerngemeinde war plötzlich dem Fortschritt im Weg, als 1969 die Entscheidung fiel, den Flughafen ins Erdinger Moos zu bauen. Die Flughafengesellschaft begann, die Grundstücke aufzukaufen. Der erzwungene Verlust der Heimat war für die "Mösler" ein schmerzhafter Prozess, der bis heute andauert. Doch Schwaigermoos lebt - durch die Arbeit zweier Frauen, die sich dem Vergessen entgegenstellen.

Der nördlichere Teil des Dorfes ist stehen geblieben. Der Flughafen brauchte den Platz nicht, die Bewohner sollten wegen des zu erwartenden Lärms trotzdem ausziehen. Heute verfallen diese Höfe. Abgesperrt hinter Bauzäunen warten sie auf ihr Schicksal, das sich erfüllen könnte, wenn die dritte Startbahn doch noch kommt. Der Großteil von Schwaigermoos liegt aber bereits vergraben unter dem heutigen Flughafengelände. Auch der Hof von Waltraud Franzspecks Eltern.

Vor fünf Jahren, sie war damals sechzig Jahre alt, bekam sie einen Anruf von ihrer alten Freundin Hildegard Zörr. Die beiden kannten sich seit ihrer Kindheit in Schwaigermoos, sie gingen zusammen in die Schule, später gemeinsam nach Oberding zum Tanz beim Wirt. Zörr war auf der Suche nach alten Fotos von Schwaigermoos. Franzspeck beschloss, ihr zu helfen. So begannen die beiden Frauen zu sammeln, woraus schließlich eine umfassende Chronik der Ortschaft erwuchs. 2016 ist sie erschienen, 164 Seiten stark. Jeder einzelne Hof, jede "Schwaig", wie man hier sagt, ist darin archiviert: Wann er erbaut wurde und von wem, wann er verkauft wurde. Fotos der jeweiligen Bewohner und ihres Alltags geben Einblicke in das Leben des Dorfes. Die "Mösler" bauten bis kurz vor Beginn der Absiedlung Pfefferminze und Petersilie auf dem feuchten, humusreichen Moorboden an.

Zwei Häuser in Schwaigermoos sind noch bewohnt. Die geschnittenen Hecken sagen: Hier wird Ordnung gehalten, inmitten des Verfalls. Mit der Presse aber wollen die Bewohner nicht mehr reden. Sie seien alt, wollten ihre Ruhe, das müsse man verstehen. Die übrigen Bauernhöfe liegen wie Grabmäler entlang der zwei Straßen, die durch die Reste von Schwaigermoos führen. Unkraut wuchert in Gärten und in Regenrinnen, auf einer Fensterscheibe entdeckt man den Aufkleber eines Pferdes, möglicherweise hat ihn ein kleines Mädchen vor Jahrzehnten dort angebracht. Aber von andächtiger Stille keine Spur. Alle paar Minuten fährt ein Auto durch das verlassene Dorf, auf dem Weg in eine der umliegenden Gemeinden. Flugzeuge steigen hinter den Baumwipfeln mit Donnergrollen auf. Schwaigermoos wirkt weniger, als sei es verlassen, sondern eher, als sei es überrollt worden.

Jenseits eines Grabens, in dem die Bauern früher Milch kühlten, beginnt am nördlichen Dorfrand die Ortschaft Eittingermoos - und mit ihr ganz plötzlich die Gegenwart. Eittingermoos wurde nicht mehr abgesiedelt. Gepflegte Häuser stehen entlang der Straße, die eben noch ins dunkle Nirgendwo der Vergangenheit zu führen schien, mit glänzenden Autos davor und Solarzellen auf dem Dach. Es gibt eine kleine Kirche, einen Fußballplatz samt modernem Vereinsheim, ein Feuerwehrhaus. Zörr und ihr Mann leben in Freising, sind aber Mitglieder der Schützen von Eittingermoos. Bei einem Vereinstreffen kam jemand auf sie zu und erzählte: "Jetzt haben sie bei euch alles abgerissen."

"Es gab noch eine Gemeinschaft"

Ihr kamen die Tränen. Der Hof ihrer Eltern war einer der wenigen in Schwaigermoos, die noch stehen geblieben waren. Sie fuhr sofort hin und stellte fest: Nur der Holzstadel war abgerissen worden. Das Wohnhaus aber, ein unscheinbarer, kastenförmiger Bau, überdauert dort noch immer die Jahre, wie ein Stück Vergangenheit, das sich einfach nicht verflüchtigen will. Die gewaltige Trauerweide, die daneben wächst, ist so alt wie Zörr. Ihr Großvater hat sie gepflanzt. Auf einem Foto in der Chronik kann man die beiden sehen: Ein alter Mann mit Frack und Hut und ein kleines Mädchen in einem schneeweißen Kleid auf der staubigen Landstraße.

Im Winter fuhren die Kinder auf dieser Straße mit dem Schlitten in die Schule. Aus den Häusern, die nun stumm daliegen, kamen damals von links und rechts die Kinder gelaufen und warfen ihre Ranzen auf den Schlitten, bis er ganz schwer war. Manchmal zog ihn der Postbote, der Miehlich aus Niederding, mit seinem Isetta-Postauto ein Stück mit. Oder die Kinder rannten fröhlich hinter ihm her und riefen ihm selbstgedichtete Verse nach. Zörr und Franzspeck blicken traurig die Moorbirkenallee entlang, wenn sie von früher erzählen. "Es gab noch eine Gemeinschaft", sagt Franzspeck. Die Bauern hätten einander selbstverständlich geholfen, sich gegenseitig Maschinen ausgeliehen, für einen Ratsch war immer Zeit. Die Chronik war auch der Versuch, diese Gemeinschaft wiederzubeleben.

Als die beiden Frauen bei den - inzwischen quer über den Landkreis verteilten - ehemaligen "Möslern" anzufragen begannen, ob diese noch Dokumente aus der Zeit hätten, bekamen sie anfangs viele Absagen. Nein, es sei nichts mehr da, und überhaupt, das sei doch jetzt vorbei. Doch dann begannen die Leute zu suchen. Wenn sie dann noch einmal nachfragten, hatten die Leute oft noch ganz viel gefunden. Vor allem Fotos interessierten die beiden Frauen. Man sollte sehen können, wie es damals war. Der inzwischen verstorbene Oberdinger Gemeindearchivar Georg Gruber, der sie bei der Arbeit unterstützte, grummelte immer wieder, eine Chronik sei doch kein Bilderbuch. Doch schließlich gab er sich geschlagen.

Die Geschichte von Schwaigermoos

Schwaigermoos ist ein junges Dorf. Die Moosgründe waren lange Zeit unzugänglich, sie dienten lediglich den Adligen als Jagdrevier und Verbrechern und Verfolgten als Versteck. Erst ab dem 18. Jahrhundert wurden Entwässerungsgräben angelegt und die systematische Besiedelung begann. Neben der Milchwirtschaft setzte sich die Erkenntnis durch, dass sich der unter den Weiden gelegene Torf hervorragend zum Heizen eignete. Die Bauern versorgten damit die ringsum gelegenen Brauereien, die damit ihre Sudkessel einheizten. Einige Freisinger Brauereien hatten ihre eigene Schwaige im Moos, also Außenhöfe, die für sie den Torf stachen und trockneten. Vor Ort wurde dann auch gleich Bier ausgeschenkt. In Schwaigermoos gab es zum Beispiel die Elefantenschwaige, deren Name daher rührt, dass im gleichnamigen Gasthaus einmal ein Zirkus einen Elefanten untergestellt haben soll. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg stellten die Bauern fest, dass die Englische Pfefferminze hervorragend auf den kargen Moosböden wächst. Die Pflanzen ließen sich als Tee und als Heilmittel verkaufen. Der Teeanbau war so einträglich, dass in Schwaigermoos eine Teeproduktionsgenossenschaft gegründet wurde, mit einer eigenen Teehalle, um die Pflanzen zu verkaufen. Sogar ein Teefest mit Schießbuden und Karussell gab es. Ende der Sechzigerjahre verfielen allerdings die Pfefferminzpreise, die Teehalle wurde 1967 verkauft. Zwei Jahre später folgte die Entscheidung, den Flughafen ins Moos zu bauen - der Todesstoß für Schwaigermoos. SZ

Als die Frauen ihr Werk schließlich der Öffentlichkeit vorstellen wollten, fragten sie bei der Gemeinde Niederding an, ob sie dafür das Bürgerhaus nutzen könnten, in das circa hundert Besucher passen. Was glauben Sie denn, wie viele da kommen, fragte der Bürgermeister skeptisch. Aber er gab ihnen das Bürgerhaus. Auch viele der "Mösler" meinten, bei so einem Treffen komme doch nur alles wieder hoch. Am Ende waren es über zweihundert Gäste - etwa so viele, wie vor der Absiedlung in Schwaigermoos gewohnt hatten. Einige mussten wieder gehen, weil beim besten Willen kein Platz mehr war. Andere sahen sie teilweise nach Jahrzehnten das erste Mal wieder.

Daraus entstand die Idee, ein regelmäßiges "Möslertreffen" abzuhalten. Das erste fand bereits im Jahr darauf statt, das zweite jüngst Anfang April. Die Gaststätte "Zur Post" in Eitting war erneut fast bis auf den letzten Platz belegt. Auch gar nicht wenige Vertreter der jüngeren Generation waren gekommen. Manche hätten nun begonnen, so Franzspeck, sich für Schwaigermoos zu interessieren - ein Dorf, das von der Ruine zur Idee geworden ist. Zur Idee eines Lebens in Gemeinschaft und im Einklang mit der Natur. Auch mit ihrem Sohn und ihrer Tochter fuhr Franzspeck noch nach Schwaigermoos, als sie bereits mit ihrem Mann nach Hallbergmoos gezogen war.

Ihnen erzählte sie die Geschichten aus ihrer Kindheit, die nun auch in der Chronik stehen: Wie sie einmal neben dem Kornmandl einschlief und dann ganz durchnässt vom Regen aufwachte, als die Mutter schon angelaufen kam und rief: "Deandl, mia ham di ganz vergessen!" Wie sie sich in ihrem ersten weißen Kleid, das die Schneiderin Maria Schmid aus Schwaig genäht hatte, als die schönste von allen fühlte. Wie die schwarze Erde beim Teegrasen unter den Füßen brannte.

Franzspeck führt die Chronik nun in einem dicken, schwarzen Ordner fort. Sie sammelt darin Fotos der Gräber ehemaliger "Mösler", ihre Sterbebilder und Todesanzeigen. So hat sie die Chronik um einen Friedhof aus Bildern erweitert. Nicht nur das Leben, wie es einmal war, auch der Tod hat hier seinen Platz. Die bäuerliche Gemeinschaft hält sich dank ihr zugleich lebendig und findet endlich Ruhe. In den Ruinen der Kindheit hinter den Bauzäunen spukt es nicht mehr. "Das Leben geht weiter", sagt Franzspeck. In ihrem Garten in Hallbergmoos wächst eine Pfefferminzpflanze, die Wurzel hat sie aus Schwaigermoos mitgenommen. Sie erntet den Tee nicht mehr. Sie lässt ihn jetzt blühen.

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Quelle:
SZ vom 04.05.2019/vewo
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