Süddeutsche Zeitung

Reportage aus dem Warteraum:Ordnung muss sein

Vor einem Jahr herrschte Chaos im Warteraum Erding. Die ausgesuchten Flüchtlinge, die jetzt kommen, werden von einer präzise durchgetakteten Maschinerie aufgenommen. Alles ist so perfekt organisiert, wie Deutschland es im Winter 2015 schon gerne gewesen wäre

Von Veronika Wulf

Als Noorhann Mustafa zum ersten Mal deutschen Boden betritt, trägt sie dünne Stoffschühchen. Null Grad Celsius. Die Tochter läuft neben ihr, der Ehemann, Abdulkhaliq Ibrahim, dreht sich nach ihr um, den Sohn an der einen Hand, in der anderen eine weiße Plastiktüte, knitterfrei und sauber, als hätte er sie die ganze Fahrt über glatt gestrichen. Darauf das Logo der Internationalen Organisation für Migration: Vater, Mutter, Kind, zwischen zwei verschobenen Globushälften.

Noorhann Mustafa schaut Deutschland an: überall Zäune, Stacheldraht, Schilder in einer fremden Sprache, eine weiße Leichtbauhalle. Klick, macht es neben ihr. Ein Mann mit rotem Kreuz auf dem Anorak drückt auf einen metallenen Handzähler, wie ein Schäfer, 41, klick, 42, klick, 43, klick, 44. Sie sind die Letzten, die aus dem Bus steigen. Der Mann notiert: Bus 6, 44 Personen. Fünf Busse stehen schon auf der Liste, 232 Personen. "Wir sind komplett", ruft er. Im Herbst 2015 standen oft tausend Flüchtlinge plötzlich im Camp am Fliegerhorst Erding, unvorhergesehen, chaotisch. Seit November 2016 läuft alles anders: strikt geplant, wie an diesem Wintertag.

In einer anderen Halle erhebt sich Peter Solnar, Flecktarnuniform, Klemmbrett in der Hand. Ventilatoren rotieren an der Decke, warme Luft strömt durch Wärmeschächte. "Ruhe!", ruft der militärische Leiter im Warteraum Erding. 20 Soldaten mit Undercuts und Fünftagebärten schauen auf, Mau-Mau-Karten fallen auf den Tisch. Die Soldaten kennen den Ablauf: Ankunft der Flüchtlinge, medizinische Untersuchung, Registrierung, Unterbringung, Abfahrt. "Wer kann registrieren?" Ein paar Hände gehen hoch. "Obermaat Gießer: Container 35, Wieser: 36 . . ." Ankunft des Flugzeugs in München: 12 Uhr, Ankunft des ersten Busses im Camp: 12.45 Uhr. "Abmarsch!", ruft Solnar.

Halle A 3: Pressspanboden, trockene Heizungsluft. "Willkommen" steht auf einem Banner an der Hallenwand in etlichen Sprachen. Hunderttausend Flüchtlinge sind hier schon vorbeigeschleust worden, dehydriert und in stinkenden Kleidern, manche hochschwanger oder mit gebrochenem Bein. Noorhann Mustafa, 26, und ihr Mann Abdulkhaliq Ibrahim, 31, sind fit und geduscht, die Familie ist komplett. Usama ist drei Jahre alt, Melak fünf, sie trägt ihren rosafarbenen Daisy-Rucksack immer bei sich, darauf ein Aufkleber, der kaum noch klebt, weil sie ihn im Flugzeug abgefriemelt hat: Life west under your seat.

Um 14.38 Uhr betritt Noorhann Mustafa mit ihrer Familie eine Stadt in der Stadt, gebaut auf einem ehemaligen Militärflughafen: 25 Fußballfelder groß, 3500 Betten in Flugzeugsheltern und Hallen, Sanitäranlagen, Stromanschluss, Feuerwehr. 20 Soldaten warten auf die syrische Familie, 25 Mitarbeiter vom Roten Kreuz, 23 Securities, 15 ehrenamtliche Helfer, zwölf Übersetzer, Ärzte, Caterer, Reinigungskräfte - es ist eine durchgetaktete Maschinerie, die sie jetzt aufsaugen und in 24 Stunden wieder ausspucken wird. Ab sofort ist nicht mehr ihr Name wichtig, sondern eine siebenstellige Aktennummer. Die Nummer will die Campleitung nicht herausgeben. Missbrauchsgefahr. Nur kein Sand ins Getriebe. Am nächsten Tag zur gleichen Zeit, fast auf die Minute genau, wird man die Familie wieder in einen Bus setzen. "Verschickung", heißt das hier im Camp. In den 24 Stunden im Warteraum scheint nichts ungeplant zu sein. Deutschland also, so perfekt organisiert, wie es 2015 gerne gewesen wäre.

Die ersten Hände, die Noorhann Mustafa in diesem perfekten Deutschland berühren, stecken in Gummihandschuhen. "Finger spreizen, bitte", sagt ein Übersetzer, noch auf der Türschwelle zur Halle A 3. Krätzeuntersuchung. Acht Quarantänecontainer stehen bereit. "Juckt es irgendwo?" Melak schüttelt den Kopf, ihr Zöpfchen wippt. "Haben Sie Schmerzen?" "Mein Sohn hat Halsschmerzen", sagt Abdulkhaliq Ibrahim. Der Sohn versteckt sich hinter dem Vater. Eine Ärztin schaut ihm in den Hals und legt der Mutter ein Fläschchen und eine Packung Tabletten in die Hand: Antibiotikum Amoxi 250 TS und Schmerzmittel Diclofenac. In der Halle ist es warm, die Mutter lässt den langen Mantel trotzdem an, zieht das Kopftuch zurecht. An der Wand hängt ein Spender mit Desinfektionsmittel, im Eingang stehen Metallsitze wie an Bahnhöfen. Ein anderer Junge hilft seiner Mutter, sich zu setzen, sie ist blass. Auch sie hält die weiße, glatte Plastiktüte in der Hand, wie eine Eintrittskarte. Wie einen Beweis: Wir dürfen hier sein.

232 Flüchtlinge stehen jetzt hier in Erding mit ihren glatten Plastiktüten. Ein Charterflugzeug brachte sie von Athen nach München, ein Reisebus vom Rollfeld zum Warteraum, organisiert vom Bundesamt für Güterverkehr. In Griechenland waren sie vorregistriert worden, zwei Mal medizinisch durchgecheckt, nach ihren Wunschländern gefragt und in einen Crash-Kurs zur deutschen Kultur gesteckt worden. Sie gehören zu 27 500 sogenannten Relocation-Flüchtlingen, die von Griechenland und Italien bis September 2017 nach Deutschland umgesiedelt werden sollen. Sie sind privilegiert, handverlesen: keine Vorstrafen, gute Bleibeperspektive, von deutschen Behörden sicherheitsüberprüft. 160 000 Flüchtlinge werden innerhalb der EU verteilt, um die Staaten an den Außengrenzen zu entlasten. Jeden Monat sollen 1000 nach Deutschland kommen, alle über den Warteraum Erding, die Eingangstür in das neue Leben.

Türsteher ist Volker Grönhagen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Er ist 60 Jahre alt, ein kleiner, energiegeladener Mann in rotem Anorak, der das Camp leitet. Er beobachtet die Letzten, die durch die Krätzekontrolle gehen. Keiner ist krank. Noorhann Mustafa und ihre Familie gehen zur nächsten Halle. Die Absperrungen lassen nur einen Weg zu, wie in einem Parcours. "Keiner kann verloren gehen", sagt Grönhagen, der sie begleitet.

Er hat schon andere Zeiten erlebt, als hier noch keine Bauzäune standen, als 2000 Flüchtlinge an einem Tag ankamen und viele schon vor der Registrierung abhauten. 50 Minuten liefen sie an der Bundesstraße entlang, bis zum Erdinger Bahnhof, um mit der S-Bahn nach München zu fahren. Manche wollten weiter nach Schweden, manche verstanden das System nicht. "Das war die Hochzeit", sagen sie heute im Camp, reden von "Überlaufbecken", "Zufluss" und "Abfluss". Nicht einmal die Polizei durfte die Ausreißer festhalten. Grönhagen ließ irgendwann den Weg zum Bahnhof ausschildern und beleuchten, schirmte die Bundesstraße mit einem Zaun ab. Es sollte wenigstens keiner überfahren werden.

Mitten in dieser Hochzeit, im November 2015, hatte Grönhagen die Leitung übernommen. Er ist ein "Einsatzjunkie" wie er sagt, er hatte gedient, zehn Auslandseinsätze, zuletzt 15 Monate in Afghanistan. Im Ruhestand hielt er es nur neun Monate aus. Staubsaugen sei nicht so seins. Organisieren, Verantwortung übernehmen, Leute führen - das kann der ehemalige Oberstleutnant. Vor allem, wenn alles nach Plan läuft, wie jetzt. Grönhagen weiß genau, zu welcher Uhrzeit wie viele Flüchtlinge aus welchen Ländern ankommen. Die Namensliste liegt ihm spätestens eine Woche vor der Ankunft vor. Er versucht dann schon mal, Verwandte in Deutschland zu erreichen, "um nebenbei Familienzusammenführung zu betreiben", wie er sagt. "Eine sehr viel befriedigendere Arbeit als vor einem Jahr."

Halle A 5: Pressspan, Biertische. Für jeden Flüchtling ein Lunchpaket: vier Semmeln, je ein Päckchen Butter, Frischkäse, Marmelade und Honig, ein Apfel, eine Flasche stilles Wasser. Ein Soldat in Flecktarn beugt sich über eine Liste, die den ganzen Biertisch bedeckt. Ibrahim greift in seine glatte, saubere Plastiktüte und reicht ihm vier Passierscheine. Der Soldat sucht auf der Liste, hakt drei Namen ab, beugt sich zu seinem Kollegen, senkt die Stimme: "Ich find' die Kleine nicht." Er checkt noch mal die Nummer, den Namen, spricht ein paar Worte ins Funkgerät. Noorhann Mustafa schaut ihren Mann an, die Tochter an der Hand.

Da kommt Peter Solnar auf sie zu, der militärische Leiter. Er beugt sich runter zu Melak und sagt: "Ich bin der Peter, und du?" Und zu den Kollegen: "Diese Kinderaugen, sind die nicht toll!" Sie checken noch mal die Liste, Nummer, Name. "Da haben wir sie ja", sagt Solnar, nimmt den Jungen an die Hand und bringt sie alle in die nächste Halle. "Die sind so dankbar. Einmal hat mich ein kleines Mädchen richtig abgebusselt. Vor einem Jahr war das alles viel schlimmer, auch hygienisch."

Nächste Halle: Pressspan, keine Nummer. Sie sitzen auf Bierbänken, müdes Warten. Noorhann Mustafa gähnt, der Sohn holt ein Marmeladenpäckchen aus der Lunchtüte, begutachtet es von allen Seiten, zieht die Plastikabdeckung runter und steckt die Zunge rein. Kirsche. "Sie sind dran", sagt ein Soldat.

Container 36: 15 Quadratmeter, Neonlicht. Ein Soldat sitzt hinter einem Computer, ein Übersetzer davor. "Wir führen hier die erkennungsdienstliche Maßnahme durch und stellen den AKN aus, den Ankunftsnachweis", sagt der Soldat. "Dafür brauchen wir Größe, Foto und Fingerabdrücke." Abdulkhaliq Ibrahim nickt, er weiß Bescheid. Man hat ihnen schon in Griechenland erklärt, was hier passieren wird. Und im Bus noch einmal. Sie werden registriert und erfahren, wo sie morgen hingebracht werden, dort können sie dann formal Asyl beantragen. Das hat Abdulkhaliq Ibrahim verstanden.

Der Soldat legt ihm ein Lineal auf den Kopf. Die Tochter kichert. "Papa, darf ich das auch?" Sie werden vermessen und fotografiert. Behandschuhte Hände drücken ihre Finger auf einen Scanner, dann stürzt das System ab. Noch mal Fotos, noch mal Fingerabdrücke. Warten. Der Sohn quengelt, die Mutter zischt leise, die Tochter kritzelt mit einem Kuli auf einem Blatt Papier herum. "Was ist das?", fragt der Übersetzer. "Tssssschhhh" macht sie und fährt mit der Hand durch die Luft. "Eine Rakete!"

Sie war zwei Jahre alt, als der Vater beschlossen hat, dass sie die Heimat verlassen. "Syrien ist mein Vater und meine Mutter. Syrien ist mein Leben", sagt Abdulkhaliq Ibrahim in die weiße, saubere, durchorganisierte Erdinger Leichtbauhalle hinein. Die Bomben kamen immer näher, die Drei-Zimmer-Wohnung in Deir ez-Zor fühlte sich an wie ein Gefängnis. Er floh mit seiner Frau und seiner Tochter in die Türkei. Drei Jahre waren sie in einem Camp an der syrischen Grenze, der Sohn kam dort zur Welt. Mit dem Bus fuhren sie nach Izmir, stiegen ins Schlauchboot, neun Meter lang, 58 Menschen. Eineinhalb Stunden später zog sie die griechische Küstenwache vor Lesbos aus dem Wasser. In Athen lebten sie als Flüchtlinge, wieder Camp, dann bezahlte ihnen eine griechische Sozialorganisation eine Wohnung. Bis das Asylamt sie Anfang Oktober 2016 zu Relocation-Flüchtlingen machte. Ihr Wunschland: Deutschland. "Unsere Verwandten haben uns erzählt, die Deutschen haben alle Flüchtlinge unterstützt", sagt Noorhann Mustafa. Hier fragt keiner mehr nach ihrer Flucht. Wichtig ist nur, sie sind die Auserwählten.

Sie sind jetzt registriert. Ab sofort können alle deutschen Behörden auf Fingerabdrücke und Fotos von Abdulkhaliq Ibrahim und Noorhann Mustafa zugreifen. "Unterschreiben Sie das", sagt ein Soldat. Abdulkhaliq Ibrahim unterschreibt, dass sie sich innerhalb von fünf Tagen bei der angegebenen Adresse melden. "Sie fahren morgen zur Erstaufnahmeeinrichtung Deggendorf." Aber die Verwandten wohnen in Stuttgart, Marburg und Essen. "Von Deggendorf werden Sie weiterverteilt". Abdulkhaliq Ibrahim nickt. Hauptsache in Deutschland.

Halle A 8: Pressspan, Kinderecke. Sie dürfen hier nicht auf die Daten vom Bamf zugreifen, deshalb registrieren sie noch mal. Karin Baumann, knallorangene DRK-Jacke, ist die Leiterin des "Guestflowmanagements". Mit einer "Quartiermanagementsoftware" wird hier die Unterbringung organisiert: Familien in C 5, Männer in B 12, Frauen in B 10. Wieder ziehen alle ihre Papiere aus den Tüten, wieder schauen sie in Kameras. Ihre erste Nacht in Deutschland verbringen Noorhann Mustafa und ihre Familie in Halle C 5, Hälfte B, Reihe A, Box 4. Ihr Leben ist jetzt gespeichert auf einer weißen Magnetkarte: Unterkunft, Namen, Herkunft, Gruppengröße, Abfahrtszeit, Ziel, ob sie schon bei der Hygienemittelausgabe waren, bei der Kleiderkammer, in der Verpflegungshalle. "Morgen um 14.30 Uhr ist Abfahrt", sagt Baumann. Abdulkhaliq Ibrahim nickt nur noch, was sonst.

Irgendwann sitzen sie auf ihren Stockbetten. Melak legt sich auf das mintgrüne Einwegleintuch, den Daisy-Rucksack am Rücken. Grönhagen erinnert sich noch gut, wie es hier in der "Hochzeit" aussah: alles voller Müll, Essensresten und Gestank.

Am nächsten Morgen sitzt er in einem Container mit Spitzdach, der Kommandozentrale des Camps. Davor hängen Zettel an Containerwänden: Anwesenheitsplanung operatives Minimum - wer lacht, hat noch Reserven. Solche Sachen.

Noorhann Mustafa steht da schon bereit mit ihrer Familie, Quartier C5BA4. Draußen dröhnt ein Hubschrauber über ihren Köpfen. Eine schwarze Gestalt seilt sich ab, wie im Actionfilm. "Schau mal!", ruft der Sohn. "Eine Polizeiübung", brüllt der Übersetzer. Ihre weiße Magnetkarte wird auf ein Lesegerät gelegt, es blinkt. Abdulkhaliq Ibrahim sagt: "Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach ist, nach Deutschland zu kommen." Als der Bus losfährt, winken Noorhann Mustafa und ihre Kinder durchs Fenster, wie Schüler auf ihrer ersten Klassenfahrt.

Und Grönhagen geht ein letztes Mal die Listen durch: Bus 12, Bus 9, Bus 7, Abfahrt 8.53 Uhr, 10.22 Uhr, 12.32 Uhr. Gesamtzahl der "Relocations" im Februar: 794. Insgesamt kamen bisher 2554. Zu wenig, aber das liege an den italienischen und griechischen Behörden, heißt es beim Bamf. Grönhagens Auftrag ist jedenfalls erledigt, er hat die Neuen registriert und verteilt. Bis jetzt hat immer alles geklappt. Nur einmal meldete eine Erstaufnahmeeinrichtung einen zu viel. Da wurde der Busfahrer mitgezählt.

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Quelle:
SZ vom 04.03.2017
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