Süddeutsche Zeitung

Obdachlosigkeit im Landkreis Erding:Corona verschärft alte Probleme noch mehr

Noch sind die Obdachlosenwohnungen relativ schwach belegt, aber Brigitte Fischer vom Caritas Zentrum Erding befürchtet, dass sich das ändern wird. Bezahlbare Räume werden für einkommensschwache Personen und Familien immer schwerer zu finden sein

Von Gerhard Wilhelm, Erding

Noch sind die Obdachlosenwohnungen im Landkreis relativ schwach belegt, aber Brigitte Fischer vom Caritas Zentrum Erding ist trotzdem beunruhigt: "Wir merken generell einen Anstieg an Problemen, die es aber immer schon gab und die sich jetzt noch mal verschärfen, weil der Wohnraum immer knapper wird." Nicht alles habe mit der Corona-Pandemie zu tun, es verschärfe aber die Lage vieler, wenn sie dadurch ihren Job verlieren würden oder in Kurzarbeit seien. Die Gemeinde Oberding hat deshalb frühzeitig eine neue Obdachlosenunterkunft mit 20 Wohneinheiten in Auftrag gegeben, die bald fertig gestellt werden soll. "Die Tendenz geht zu mehr Obdachlosigkeit. Ehe wir dastehen und keine haben, wird gebaut", sagt Justine Heike, Leiterin für öffentliche Sicherheit und Ordnung am Rathaus Oberding.

Die Kommunen sind nach einer Empfehlung des bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales zur Unterbringung von Obdachlosen verpflichtet. Für die Unterbringung ist diejenige Gemeinde zuständig, in der die Betroffenen obdachlos werden. Die Gemeinde kann sich dieser Zuständigkeit nicht dadurch entziehen, dass sie die Obdachlosen an eine andere Gemeinde verweist. Derzeit können die meisten Gemeinden im Landkreis der Aufgabe nachkommen, wie eine Umfrage zeigt. So hat Isen zum Beispiel zwei Häuser mit vier Wohnungen, aber nur eine ist im Moment belegt. Maximal können 14 Personen unterkommen, wie Yasmin Köck vom Isener Ordnungsamt mitteilt. Ähnliches in der VG Hörlkofen (Gemeinde Wörth und Walpertskirchen): Von den zwei Zimmern für je zwei Personen ist nur ein Platz belegt, teilt Maria Gaigl mit.

Doch das könnte die Ruhe vor dem Sturm sein. Den Bereich, in dem es problematisch ist, eine Wohnung zu finden, beziffert Brigitte Fischer auf "bestimmt mindestens 100 Kilometer um München herum". Selbst in Mühldorf gebe es mittlerweile Wohnungsnot. Die dreimonatige Stundung der Miete im vergangenen Jahr sei schön und gut gewesen, "aber das kann nicht gut gehen, weil die Betroffenen immer gleich verdienen und damit grad so über die Runden kommen". Diese Personen würden nicht plötzlich in den Genuss eines Geldsegen kommen, um die gestundeten Mieten zahlen zu können. 2020 habe es bereits mehr Zwangsräumungen gegeben. Die seien zwar jetzt ausgesetzt, aber wenn sie wieder erlaubt seien, würden sie schnell wieder einsetzen, glaubt Fischer.

"Was wir spüren, sind ganz viele Eigenbedarfskündigungen. Das hat nicht direkt mit Corona zu tun, sondern eher damit, dass einfach kein Wohnraum mehr vorhanden ist." Menschen, die eine Wohnung vermieten, brauchen sie nun für ihre Kinder oder Verwandte, dadurch würden Mieter aus ihren Wohnungen "rausgedrängt". Zudem gebe es viele Menschen, die am Flughafen bisher einen 450-Euro-Job gehabt haben, der aber weggefallen sei, und nun Schwierigkeiten haben, ihre Miete zu zahlen. Die Dunkelziffer der Personen in Not sei hoch: "Ich glaube, dass sich viele noch nicht trauen, zu uns zu kommen. Erstaunlicherweise haben wir weniger Fälle aus dem Gastrobereich. Ob es sich tatsächlich um einen Eigenbedarf handelt, kann man erst im Nachhinein feststellen, aber dann ist man schon aus der Wohnung. Das ist bei Eigenbedarfskündigungen das Schlimme", sagt die Sozialpädagogin, die bei der Caritas für Schuldenprävention, soziale Beratung und Obdachlosigkeit zuständig ist.

Der zunehmende Druck zeige sich auch darin, dass immer mehr Leute immer mehr hinnehmen würden, zum Beispiel Mängel in den Wohnungen wie Schimmel. "Sie haben wirklich Angst, weil sie wissen, dass es sehr schwierig ist, was Neues zu finden. Man nimmt viel hin, traut sich auch nicht, sich zu beschweren, und viele wohnen wirklich in viel zu kleinen Wohnungen. Wir haben eine vierköpfige Familie, die wohnt zur Miete in einem 40-Quadratmeter-Appartement. Das sollte nicht sein und ist für die Kinder bestimmt nicht gut. Im Homeschooling ist das eine Katastrophe. Dass dann Eltern überfordert sind, ist kein Wunder."

Alles zusammen führe zu großen Problemen, zu psychischen Erkrankungen, zu Ausgrenzungen. Die Kinder würden niemanden einladen daheim, unabhängig von Corona. Da spiele auch Scham eine große Rolle. "Erding ist auf der einen Seite reich, man wohnt in schönen Häusern, aber der Spalt zu der anderen Welt ist sehr tief. Die, die keine Geldsorgen haben, können auch ins Homeoffice. Viele können aber nicht ins Homeoffice, die werden einfach in Kurzarbeit geschickt, ob sie wollen oder nicht", sagt Fischer. Man habe auch viele Menschen, denen einfach gekündigt worden sei, weil sie noch in der Probezeit gewesen sind. "Kein Job ist auf der Wohnungssuche fatal, nur Kurzarbeitergeld zu erhalten ist auch nicht gerade förderlich. Vermieter sind in der guten Situation, dass sie aus ganz vielen wählen können und dann natürlich keine Wackelkandidaten beim Einkommen nehmen, was auch verständlich ist. Aber unser Klientel bleibt dabei auf der Strecke."

Eine Zahl für die aktuell Betroffenen anzugeben, sei schwer. Es gebe aber genügend Menschen, die schon jahrelang in Notunterkünften lebten. "Ein jeder ist eigentlich zu viel. Dazu gibt es eine Dunkelziffer, da viele bei Freunden oder Familien unterkommen", sagt die Sozialpädagogin.

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Quelle:
SZ vom 13.04.2021
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