"Ich kaufte am 30.10.41 bei Frau Neumaier ein. Dabei fragte mich die Frau Neumaier, ob ich etwas davon gehört habe, dass heute die Frauen in die Schule hinaufgehen. Frau Neumaier erzählte mir auch, dass gestern die Frau Gärtner bei ihr im Laden war und an sie die Frage stellte, ob sie auch mitgehe." So steht es in einem Verhörprotokoll aus dem Jahr 1941 der Schutzpolizei Erding. Was die Frauen planen, ist gefährlich, und doch marschieren letztendlich über 100 Erdingerinnen Ende Oktober 1941 zum Grünen Markt, um mit einer gehörigen Portion Wut gegen eine Anordnung des Naziregimes zu protestieren.
Was die Frauen Ende Oktober 1941 auf die Barrikaden bringt, ist der Beschluss der Gauleitung, alle Kreuze aus den Klassenzimmern zu entfernen. Die Erdingerinnen sind empört und lassen sich dabei nicht so einfach vom Rektor abwimmeln, wie Polizeiprotokolle belegen.
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Aussage Marga Müller: "Inzwischen kam auch der Kreisleiter und forderte uns auf, das Schulhaus zu verlassen. Wir haben das Schulhaus sofort verlassen. Etwa 25 Frauen, darunter auch ich, begaben sich dann zum Landrat, um dort Rat einzuholen. Im Büro des Herrn Regierungsrates Lutz befanden sich Frau Gärtner, wahrscheinlich die Wirtin von Siglfing, eine unbekannte Frau und ich. Die übrigen Frauen warteten im Flur des Landratsamtes. Ich habe zu keinem Zeitpunkt eine strafbare Handlung begangen."
Der Protest der Erdinger Frauen ist der "größte Akt des Widerstands im gesamten Landkreis", sagt der Historiker Giulio Salvati am Samstag beim Treffpunkt im Stadtpark Erding. In Kooperation mit dem Arbeitskreis "Erding bewegt" und dem Historischen Verein Erding geht es von hier auf eine "Stadtwanderung auf den Spuren gewöhnlicher Frauen im Nationalsozialismus". An die 80 Zuhörer und Zuhörerinnen sind gekommen.
Erste Station: Tiergehege im Stadtpark. Ein paar Meter davon entfernt hatte sich 1944 ein sogenannter "Ehrenhain" befunden. Letztendlich war eine große kreisförmig angelegte Tempelanlage geplant. Dabei fabulierten die Verantwortlichen von "blondlockigen" Mädchen", die an den Ehrentafeln der gefallenen Soldaten "kleine Veilchensträußchen" niederlegen würden. Von dem Ehrenhain ist heute nichts mehr zu sehen, "alle Spuren wurden getilgt", so Salvati.
Es geht weiter über den Parkplatz der heutigen Realschule Heilig Blut. Die Armen Schulschwestern, die dort etwa 130 Mädchen unterrichten, sind der Obrigkeit bald ein Dorn im Auge. Niemand außer dem Regime sollte Einfluss ausüben können, erklärt der promovierte Historiker. 1938 werden die 15 bis 20 Schulschwestern getrennt und einem strengen Arbeitsverbot unterworfen. Statt der Mädchen werden jetzt Buben in dem Schulgebäude unterrichtet.
Nächste Station ist der Parkplatz Mayr-Wirt, auf dem einst das gleichnamige Wirtshaus stand. Im Obergeschoss der inzwischen abgerissenen Gastwirtschaft waren 30 bis 35 französische Kriegsgefangene untergebracht, in einem Zimmer mit vergitterten Fenstern, so Salvati. Einer davon wird für eine Erdingerin noch eine große Rolle spielen.
Es geht weiter zum Grünen Markt. Hier findet Ende Oktober 1941 die Protestaktion der Erdingerinnen statt. Es ist keine Demo gegen das Regime, "die Frauen wollten einfach erreichen, dass die Kreuze bleiben", sagt Salvati. Doch die Obrigkeit kann nicht glauben, dass die Frauen von sich aus den Protest angezettelt haben. "Den Frauen wurde eine selbständige Handlungsfähigkeit abgesprochen", so Salvati. Ein männlicher Schuldiger, ein Rädelsführer muss her! Benefiziat Sebastian Vielhuber und Stadtpfarrer Korbinian Heinzinger werden zuerst befragt. Am Ende landet Bauunternehmer Max Auer im Behelfsgefängnis Hl. Geist Spital, das seine eigene Firma gerade erstellt.
Auer hatte am Abend der Aktion in der Post am Stammtisch über die Gauleitung lauthals geschimpft, berichtet Salvati. Fünf Frauen immerhin müssen eine Geldstrafe zahlen auf ein gesperrtes Konto bis 1944, welches wieder freigegeben wurde nach guter Führung. Der Betrag beläuft sich zwischen 600 und 200 Reichsmark, allein 200 Reichsmark bedeuteten das etwa vier- bis fünffache Netto Monatsgehalt eines Maschinenschlosser damals. Am Ende wurden die Kreuze tatsächlich wieder angebracht - "wann allerdings ist unklar", so Salvati.
Zum Schluss geht es zur Grünfläche vor dem Bahnhof. Hier sind sich in den 1940er Jahren die Erdingerin Margarete und der französische Kriegsgefangene Jean Marcel immer wieder begegnet. Beide sind verheiratet, Margaretes Mann ist an der Front. Es entwickelt sich eine Liebesziehung, die jedoch streng verboten ist. Ein anonymes Schreiben denunziert die beiden, erzählt Salvati. Margarete wird zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Ihre achtjährige Tochter wird sie erst nach Kriegsende 1945 wiedersehen. Jean Marcels Schicksal ist ungewiss, ihm drohten Zuchthaus oder Deportation in ein härteres Arbeitslager, sagt Giulio Salvati. Einem polnischen Zwangsarbeiter wäre es wohl schlechter ergangen, er hätte in diesem Fall wohl mit der Hinrichtung rechnen müssen.
Bei der Lesung geben Erdinger und Erdingerinnen den Frauen eine Stimme
Der Historiker Giulio Salvati, frisch promoviert an der New York University, ist in Erding zur Schule gegangen und hat schon lange zum Nationalsozialismus recherchiert. 2021 erhielt er den Tassilo-Sozialpreis der SZ zugesprochen. Immer wieder hat er mit dem Thema Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus im Landkreis Erding geforscht und eine öffentlich zugängliche Datenbank den vielen Tausend Menschen ein digitales Denkmal gesetzt. Mit seinem Stadtspaziergang am Wochenende widmete er sich nun "gewöhnlichen Frauen" - "Unterstützerinnen, Widerständige und Verfolgte", wie es im Titel hieß.
Berührend war auch der zweite Teil der Veranstaltung, als am Sonntagvormittag am Grünen Markt Verhörprotokolle der Frauen verlesen wurden. Unter anderem haben Zweite Bürgermeisterin Petra Bauernfeind, Jutta Harrer, ehemalige Stadt- und Kreisrätin sowie Initiatorin von Erding Bewegt, Bernd Rötzer, Enkel von Maria Peiß, einer der protestierenden Erdingerinnen, sowie Karin Kreuzarek die Protokolle nachgesprochen und mutigen Frauen eine Stimme gegeben.