Süddeutsche Zeitung

München:"Noch nie so schlimm wie in diesem Jahr"

Schäferin Martina Feser bringt für gewöhnlich so schnell nichts aus der Ruhe, wenn sie ihre 500 Tiere auf der Münchner Panzerwiese hütet. Was die junge Mutter aber rasend wütend macht, sind achtlose Zeitgenossen, die ihre Hunde dort ohne Leine springen lassen

Von Justus Wilke

Wer ein neun Monate altes Baby zur Arbeit mitnimmt, zumal zum Schafehüten, muss sicher ein ausgeglichenes Gemüt haben. Auf die Schäferin Martina Feser trifft dass offenbar zu, denn entspannt und heiter schiebt die braungebrannte 27-Jährige den Kinderwagen mit ihrer Tochter Sophia über die Panzerwiese im Münchner Norden. Ihre beiden Hunde Hexe und Benny laufen derweil gemächlich um die gut 500 Tiere zählende Herde herum. Indes, die Hunde, nicht ihre beiden, sondern die der anderen, der hier täglich herumstreifenden Gassigeher - das ist ein Thema, das Feser durchaus aus der Fassung bringen kann.

Ein sonniger Herbsttag, ein Vormittag mit der Schäferin auf der Panzerwiese. Eine friedliche Landschaft, ein Naturschutzgebiet, ein sensibles Areal also - mit häufig unsensiblen Besuchern allerdings, wie von der Schäferin zu erfahren ist. Seit sechs Jahren ist Feser, kurze Jeans, weißes Top, sonnengebleichter Hut, hier die Schäferin, von Ende April bis Anfang Dezember hütet sie täglich zwischen 9 und 14 Uhr ihre Schafe. Sie sei schon beleidigt, beschimpft und bedroht worden, sagt sie. So gelassen sie mit dem Quengeln der kleinen Tochter und der blökenden Herde umgeht, so aufgebracht kann sie werden, wenn die Sprache auf das Verhalten von Herrchen und Hund auf der Panzerwiese kommt. "Es kann jeder herkommen", sagt Feser, jeder könne ihr Fragen stellen und sich nach ihrer Tochter erkundigen, "aber ohne Hund, ohne Hund!"

Sie berichtet, wie immer wieder nicht angeleinte Hunde die Herde aufscheuchen, auf die Herde losgehen, manchmal sogar zubeißen. Die Schafe geraten dann in Panik, rennen sich vor Angst gegenseitig über den Haufen, verletzen sich. "Letztes Jahr waren es bestimmt zehn Fehlgeburten", sagt Feser sichtlich wütend. Beweisen kann sie freilich nicht, dass dies mit den Vorfällen zusammenhängt. In jedem Fall koste sie jedes verletzte oder tote Schaf Geld. Die Herde sei schließlich ihr Kapital: Martina Feser pachtet die Panzerwiese, hütet dort die Tiere und verkauft die Lämmer an den Schlachthof. Die nicht angeleinten Hunde, so sagt sie, seien schon immer ein Problem gewesen. "Aber es war noch nie so schlimm wie in diesem Jahr."

Plötzlich wird es unruhig: Die Hunde der Schäferin jagen über die Heide und treiben die Schafe wieder zusammen. "Benny, Hexe, aus!", ruft Feser. Die Hunde gehorchen sofort, laufen zurück und ruhen sich am einzigen schattigen Plätzchen der Panzerwiese aus, neben dem Kinderwagen. Für Fesers Hunde gilt eine Ausnahme: Sie dürfen ohne Leine in dem Naturschutzgebiet umherlaufen, für alle anderen Hunde gilt Leinenpflicht. Das wollen aber offensichtlich so manche Gassigeher nicht einsehen. Sie erleben dann eine resolute, ja erzürnte Schäferin, sie ihrerseits aggressiv reagierende Hundehalter.

Tobias Maier kennt die Situation sehr genau, er ist einer von 50 Gebietsbetreuern in Bayern, ein vom Freistaat bestellter Ansprechpartner für die Umsetzung der Naturschutzverordnung. Zu seinem Revier gehört auch die Panzerwiese, ein Gebiet, das bis 1990 militärisch als Truppenübungsplatz genutzt wurde. Dort wächst, ebenso wie weiter östlich auf der Fröttmaninger Heide, Kalk-Magerrasen; ein Lebensraum für seltene und geschützte Pflanzen und Tiere. Deshalb ist die artenreiche Panzerwiese seit 2002 als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Fesers Schafe spielen dabei eine wichtige Rolle: Ihr Kot ist ein natürlicher Dünger für die Heide. Außerdem seien die Tiere ein "essenzieller Naturschutzrasenmäher, der die Artenvielfalt erhält", beschreibt es Maier. Doch diese Artenvielfalt sieht er bedroht: In diesem Frühjahr hat er keine einzige singende Feldlerche auf der Panzerwiese gehört, sonst brüteten dort sechs oder sieben, wie er sagt.

Maier ist ebenfalls ein ausgeglichenes Naturell anzumerken, wenn er über Flora und Fauna spricht. Doch kann auch er sich ganz schön aufregen, wenn von den menschlichen Besuchern und deren Hunden die Rede ist. Die Corona-Pandemie spielt da auch ihre Rolle. "In dieser Zeit haben viele Münchner Bürger die Naturschutzgebiete entdeckt", erzählt er. Das Areal der nahegelegenen Fröttmaninger Heide, das auch zu Maiers betreuten Gebieten gehört, habe im Frühjahr sogar fast "Jahrmarkt-Charakter" gehabt. Dort gibt es schon länger den gleichen Konflikt: Die Münchner suchen Erholung, die Natur braucht aber einen gewissen Schutz. "Einfach wäre es, wenn sich die Menschen von Haus aus an die Regeln halten würden", sagt Maier. Aber den Städtern fehle oftmals das Verständnis darüber, dass die Schäferin und ihre Herde einen wichtigen Naturschutzauftrag erfüllten. Daher müsse er immer wieder aufs Neue Aufklärungsarbeit leisten und mit den Besuchern sprechen.

Trotz allem betont Schäferin Feser, dass die Menschen ihr "zu 99,9 Prozent" Verständnis entgegenbrächten. Sie hat jetzt ihren linken Arm lässig auf ihre Hüfte, den rechten auf den Kinderwagen gestützt. Sie schaut entspannt auf ihre Schafe, bis ein missvergnüglicher Anblick die friedliche Szene stört. "Sehen Sie, das verstehe ich nicht", sagt sie und deutet über die Herde hinweg, mit dem Gesichtsausdruck einer Frau, die eine solche Szene schon allzu oft gesehen hat, ihr allzu oft aber nur der stille Frust bleibt. Zu sehen ist ein Hund, der ohne Leine einem Fahrradfahrer hinterherhechelt.

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Quelle:
SZ vom 16.10.2020
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