Mitten in der S-Bahn:Der Kampf mit der Korrektur

Was schreibt dieser junge Chinese da? Schon hat man den ersten Fehler entdeckt - und steckt in einem tiefen Gewissenskonflikt

Kolumne von Berthold Neff

Du steigst morgens in die S-Bahn und entfaltest deine Zeitung so, dass sie dem Sitznachbarn den Blick auf seinen Laptop nicht verdeckt. Weil der Mensch an sich neugierig ist, schielt man halt so ein bisschen auf den Bildschirm nebenan. Was schreibt dieser junge Chinese da? Ein Bewerbungsschreiben, und da der Brief den ganzen Bildschirm ausfüllt, kann man jedes einzelne Wort gut lesen, auch seinen Namen. Schon hat man den ersten Fehler entdeckt - und steckt in einem tiefen Gewissenskonflikt.

Wäre es unhöflich, sich als weißer, besserwisserischer Mann fortgeschrittenen Alters zu outen, der einen Gast aus einem fremden Kulturkreis hochnäsig belehrt? Und kann man dies ohne zu erröten als Bürger eines Landes tun, das sich aus der Produktion von Smartphones längst zurückgezogen hat und dessen Ingenieure sich stattdessen dem zuverlässigen Austricksen der Abgasreinigung von Dieselmotoren widmen? Und ist es nicht so, dass Asiaten es verabscheuen, ihr Gesicht zu verlieren?

Bestimmt hassen sie es auch, wenn andere indiskret sind, dieser komische Deutsche da weiß, dass sich Kuan-Fu Gang - so sein Name in stark abgewandelter Form - für einen IT-Job bewirbt. Es könnte eine Szene geben. Einerseits. Andererseits wäre es herzlos, Herrn Gang ins Verderben laufen zu lassen. Muss man ihn nicht unbedingt davor bewahren, dass er sein Schreiben mit einem Fehler beginnt und anstatt "Sehr geehrte" leider "geerthe" schreibt? Vielleicht denkt er, wenn er Buchstaben statt Schriftzeichen verwendet, auf Englisch, "the".

Man einigt sich innerlich auf einen Kompromiss: Wenn Kuan-Fu Gang nicht am Isartor aussteigt, sagt man es ihm und verlässt, falls es Komplikationen gibt, fluchtartig am Marienplatz die S-Bahn. Okay, tief Luft holen und sagen: "Sie haben "geehrte" falsch geschrieben, das h muss hinter das e." Kuan-Fu Gang macht große Augen, beginnt aber mit dem Umräumen. Setzt das h hinter das e, allerdings hinter das erste. Nein, es muss hinter das zweite. "Ah", sagt er in gutem Deutsch, "das ist meine erste Bewerbung". Eine Minute noch bis Marienplatz. "Es heißt nicht", sagt man noch, "meine Know-how", sondern "mein". War doch gar nicht so schwer, Fehler politisch korrekt zu korrigieren. Gewusst wie. Jetzt aber raus aus der S-Bahn.

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