Süddeutsche Zeitung

Mitten in der Region:Der Trommler auf dem Dach

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Ein Musiker ganz in Schwarz und Weiß, der noch dazu ohne Gage auftritt. Jeden Tag

Von WALTER GIERLICH

Nein, der "Fiddler On The Roof" - so der englische Originaltitel des Musicals "Anatevka" - ist es nicht, der uns Tag für Tag musikalisch vom Dach herab erfreut. Dafür sind die Klänge zu unmelodisch, ähneln zu wenig dem klezmermäßig angehauchten Musical aus dem jiddischen Schtetl, dessen bekanntesten Hit zumindest die älteren Leser kennen dürften: "Wenn ich einmal reich wär." Doch um Reichtum oder Geldverdienen geht es dem Musiker oben auf dem Haus ganz offensichtlich nicht. Zumindest hat er - oder ist es vielleicht eine Sie? - bisher trotz enormer Konzertlängen samt diverser Zugaben noch nie eine Gage verlangt.

Es klingt auch nicht wie eine Geige, was von dort oben zu hören ist. Eher fühlt man sich an den kleinen Oskar Matzerath erinnert, den Blechtrommler aus dem Opus Magnum von Literaturnobelpreisträger Günter Grass. Der eine oder andere mag die Figur auch aus dem oscarprämierten Film von Volker Schlöndorff kennen. Trommelschläge in unregelmäßigen, verzwickten Rhythmen hallen durchs Haus, mal klingen sie wie ein Becken, ein andermal wie eine Kesselpauke. Als sie zu Frühlingsbeginn vor einigen Monaten erstmals zu hören waren, gab es zunächst lange Zeit ein großes Rätselraten über die Herkunft der Töne, die an ein experimentelles Klassik-Konzert erinnern. Ist da etwas mit der Heizung nicht in Ordnung? Schlägt irgendwo ein Fensterladen? Hat sich am Dach etwas gelockert und klappert jetzt?

Nach einigen Tagen ist die Lösung gefunden: Der Musiker steht auf dem Dach, ganz seriös in Schwarz und Weiß. Nur handelt es sich dabei nicht um Frack und gestärkte Hemdbrust, sondern um ein Federkleid. Der Trommler ist nämlich eine Elster, die aufs silbern glänzende Abdeckblech des Kamins klopft, dessen Rohr dabei als phänomenaler Resonanzkörper dient. Ein Rabenvogel, dem gewöhnlich Unrecht getan wird, indem man ihn als diebisch verleumdet. Zutreffend müsste es doch heißen: musikalische Elster.

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Quelle:
SZ vom 21.06.2016
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