Süddeutsche Zeitung

Mitten im Amtsgericht:Kleine Ursache, großes Unheil

Nachbarschaften sind wie Spannungen in der Erdkruste. Lange passiert nichts, doch irgendwann knallt es

Kolumne von Max Ferstl

Wenn zu antiken Zeiten die Erde bebte, hatte immer ein Gott seine Finger im Spiel. Meistens ein wütender, der zu unverhältnismäßigem Handeln neigt. Enlil, der mesopotamische Herr über Wind und Erde, soll sich zum Beispiel vor 4000 Jahren sehr geärgert haben, als ihn laute Menschen vom Schlafen abhielten. Es musste sich einiges in ihm aufgestaut haben, denn er ließ das Land bersten "wie ein Tonkrug". So steht es im Gilgamesch-Epos. Eine scheinbar kleine Ursache führte zu großem Unheil. Das galt vor 4000 Jahren in Mesopotamien, genauso wie heute im Amtsgericht Erding.

Dort sagte diese Woche ein Polizist aus Oberding aus, in dem sich seit sieben Jahren einiges aufgestaut hat. Er habe sich sehr geärgert, erzählte der Polizist, als ihn damals sein Nachbar mit dem erhobenen rechten Arm begrüßte. Eine Geste, die als Hitler-Gruß bekannt und verboten ist. Er habe sich auch geärgert, erzählte der Polizist, als sein Nachbar die Reichsflagge gehisst habe. Aber er wollte "darüber hinwegsehen".

Nachbarn verhalten sich im Grunde wie die tektonischen Platten der Erdkruste, die Wissenschaftler derzeit für Erdbeben verantwortlich machen: Sie reiben sich, bauen Spannung auf, halten Druck aus - aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Irgendwann knallt's wie in Oberding im November 2016. "Bullenarschloch" soll der Nachbar den Polizisten genannt und ihm den Mittelfinger gezeigt haben. Scheinbar harmlos verglichen mit Nazigruß und Reichsflagge, aber genug für eine massive zwischenmenschliche Verwerfung. Der Polizist zeigte seinen Nachbarn wegen Beleidigung an. Dieser bestritt vor dem Amtsgericht alles, die Beleidigung, den Mittelfinger, die Reichsflagge. Eine Sache konnte er allerdings nicht leugnen: Die Spannung, die sich langsam aufgebaut hatte. Obwohl man sich doch anfangs blendend verstanden hatte. Vielleicht lag es an dem neuen Funkgerät, das der eine im vergangenen Sommer etwas zu laut ausprobiert hatte? Oder doch das Wohnmobil, das der andere ungünstig parkte? Ein klarer Fall für Seismologen. Diese haben inzwischen Nachbarschaften zu Risikozonen erklärt.

Der Angeklagte jedenfalls hatte Glück, dass der zornige Enlil von dem Streit nichts mitbekommen hat. Deshalb traf ihn nur das Urteil der Richterin. Die Strafe, 800 Euro, wird seinen Geldbeutel vermutlich nicht bersten lassen wie einen Tonkrug.

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Quelle:
SZ vom 11.11.2017
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