Kommunalwahl in Erding:Premiere am Wahltag

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Erstmals dürfen auch Menschen mit Behinderung, die unter vollständiger Betreuung stehen, ihre Stimme abgeben. Wer zum Ausfüllen Unterstützung braucht, kann einen Helfer mit in die Wahlkabine nehmen. Dieser ist zur Geheimhaltung verpflichtet

Von Regina Bluhme, Erding

Alex ist 19 Jahre alt, ein hoch aufgeschossener, freundlicher junger Mann. Die Eltern regeln seine Finanzen, sie entscheiden über Arztbesuche und erledigen die Korrespondenz, denn aufgrund einer Hirnfehlbildung ist Alex motorisch und geistig eingeschränkt. Dieses Jahr ist für Alex ein besonderes: Er beendet im Sommer die Schule und will dann Schreiner oder Landwirt werden. Und er wird am 15. März wählen gehen. Erstmals können auch vollständig betreute Menschen mit Behinderung bei einer Kommunalwahl ihre Stimme abgeben. Das Bundesverfassungsgericht hat Anfang 2019 den Weg dafür frei gemacht.

Ganz fremd ist Alex (auf Wunsch der Familie steht hier nicht sein richtiger Name) das Thema nicht. Schließlich ist er seit einigen Jahren gewählter Schülersprecher am Förderzentrum St. Nikolausschule in Erding. Für Politik habe er sich bislang nicht so interessiert, gibt er offen zu. Aber er kennt den Namen von Erdings Oberbürgermeister. Max Gotz, "den könnte man schon wählen", sagt er. "Und weißt du auch den Namen den Landrats?", fragt seine Mutter. Alex überlegt kurz: "Bayerstorfer", kommt die richtige Antwort.

Im Erdinger Edeltraud-Huber-Haus leben 38 Menschen mit geistiger oder Mehrfachbehinderung. Hausleiterin Simone Marton weiß, dass einige der Bewohner schon "bitter enttäuscht" waren, dass sie bislang nicht zur Wahl zugelassen waren. "Wir informieren die Bewohner in leichter Sprache, worum es geht", sagt Marton. Es gebe durchaus Bewohner, die keine Interesse zeigten, weiß Simone Marton, "aber die, die wollen, die wissen auch genau, was sie wählen wollen", sie fragen nach, informieren sich über Nachrichten. Da werde auch mal in Wahlprogrammen nachgeschaut, was die Parteien für behinderte Menschen tun wollen. Demnächst findet eine interne Veranstaltung statt, zu der alle Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Wohnbereich Edeltraud-Huber-Haus, Haus Drechslerstraße und Ambulant Betreutes Wohnen eingeladen sind. Simone Marton und ihre Kollegin Corinna Bach werden die Kommunalwahl möglichst in leichter Sprache und mit Hilfe eines Heftes in leichter Sprache erklären und auf alle anfallenden Fragen eingehen.

"Ich finde es super, dass es jetzt diese Möglichkeit gibt", sagt Simone Marton. Menschen mit Behinderung seien ein Teil der Gesellschaft und sie sollten auch mitbestimmen dürfen.

Wie bei Claudia Grote, Geschäftsführerin des Betreuungsvereins für Bürger und Bürgerinnen der Landkreise Ebersberg und Erding, zu erfahren ist, durften bisher schon Menschen, die in einem Teilbereich unter Betreuung stehen, wählen. Wer zum Beispiel bei der Verwaltung der Finanzen einen Betreuer hat, konnte zur Wahlurne gehen. Wer allerdings in "allen Angelegenheiten", wie es im Fachjargon heißt, unter Betreuung gestellt ist, dem war das bislang verwehrt. Diesen Ausschluss hat das Bundesverfassungsgericht im Januar 2019 als verfassungswidrig eingestuft. Begründung: die bisherige Regelung verletze den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl sowie das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung.

Insgesamt waren beim Amtsgericht Erding zum 31. Dezember 2019 laut Auskunft von Pressesprecher Josef Priller 2359 Betreuungsverfahren anhängig. Nicht alle werden jedoch zu einer Anordnung führen, so Priller, zum Beispiel wenn eine Vorsorgevollmacht vorliege.

Claudia Grote ist seit elf Jahren Betreuerin und derzeit für 20 Menschen zuständig. Über die anstehende Wahl hat sie mit ihnen gesprochen. Sie begrüßt ausdrücklich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. "Es ist ihr gutes Recht, sie sind schließlich immer noch mündige Bürger." Auch Menschen in Betreuung könnten durchaus ihren Willen kundtun, betont Claudia Grote. Über die Wahl und das Ausfüllen des Zettels versuche sie aufzuklären, möglichst leicht verständlich. Zudem ermuntere sie, beim Wahl-O-Mat mitzumachen, "um zu sehen, in welche Richtung es geht". Außerdem kenne sie ja meistens die Menschen schon längere Zeit, "ich kenne ihre Geschichte und habe über Freunde und Verwandte erfahren, was vorher war". Wer zum Beispiel monatlich an fünf Umweltorganisationen spende, der tendiere "sicher eher zu ökologisch".

Vor kurzem hat die Caritas Kontaktstelle Erding mit dem AWO Kreisverband Ebersberg im Rathaus von Fraunberg einen Workshop zur Wahl für Menschen mit Behinderung organisiert. Unter den Teilnehmern war auch Alex. Erst als ihr Sohn den Flyer dafür heimgebracht habe, sei ihr bewusst geworden, dass Alex wählen darf, erklärt die Mutter. "Ich finde das sehr gut", fügt sie hinzu. "Ich auch", sagt Alex und lacht. "Wir haben versucht, den Teilnehmern des Wahlworkshops alles in leichter Sprache zu erklären", sagt Dominik Hübner, Leiter der Caritas-Kontaktstelle für Menschen mit Behinderung Erding. Da ging es zum Beispiel darum, welche Aufgaben Kommunen haben, was gewählt wird, welche Parteien antreten und auch ganz praktisch wie ein Wahlzettel ausschaut und vor allem, wie er korrekt ausgefüllt wird. "Das war ganz schön viel", sagt Alex. Probeweise wurde ein "kleiner Gemeinderat" mit fünf Mitgliedern, darunter Alex, gewählt. Das Gremien hatte zu entscheiden, was zum Mittagessen bestellt werden sollte. Abstimmungssieger: Pizza.

(Foto: oh)

Bleibt die Frage, was aus dem Wahlgeheimnis wird. "Der Betreuer muss natürlich mit in die Wahlkabine", so Grote. "Es geht auch darum zu unterstützen und zu beschützen, damit der Wähler keinen Fehler macht und einen ungültigen Wahlzettel abgibt." Und der Betreuer darf das auch, wie beim Landratsamt Erding zu erfahren ist. "Bei der Stimmabgabe in einem Wahllokal darf die Hilfsperson gemeinsam mit der abstimmenden Person die Wahlkabine aufsuchen, soweit das zur Hilfeleistung erforderlich ist", schreibt die Pressestelle mit Verweis auf der Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz.

Für die Briefwahl gilt: Die Hilfsperson muss per Eidesstatt auf einem Vordruck auf dem Wahlschein bestätigen, "dass sie den Stimmzettel gemäß dem erklärten Willen der wählenden Person gekennzeichnet hat". Und: Die Hilfsperson ist zur Geheimhaltung verpflichtet. Gleichzeitig droht das Gesetz harte Strafen an, sollte jemand unbefugt wählen oder das Ergebnis verfälschen. Dafür kann es eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geben.

"Die meisten der Betreuten werden wohl Briefwahl machen", schätzt Claudia Grote. Auch Alex Familie tendiert zu Briefwahl. "Da haben wir mehr Zeit und mehr Platz", sagt die Mutter. Nicht, dass am Ende noch ein Fehler Alex Stimme ungültig macht. Wäre doch schade. Jetzt, wo er das Wahlrecht hat.

© SZ vom 18.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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