Süddeutsche Zeitung

Kinder und Jugendliche im Lockdown:Schwer wie ein Medizinball

Die Erdinger Psychologin Diana Bruer erlebt gerade einen regelrechten Ansturm auf ihre Praxis. Doch es gibt auch Schülerinnen und Schüler, denen es in der Ausnahmesituation besser geht als im Normalbetrieb

Von Julian Illig, Erding

"Es geht mir nicht gut, auch wenn ich sage, ,mir geht's gut'. Ich fühle mich außen vor, abgeschnitten, weggestoßen. Wie wenn man einen Medizinball in den See wirft und ruft: ,Schwimm! Schwimm rüber!'" Es ist ein eindringliches Bild, mit dem ein 14-Jähriger seine Situation in der Corona-Pandemie der Erdinger Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Diana Bruer beschrieben hat. Auch Bruers Einschätzung der Lage ist eindringlich: "Den Jugendlichen geht es sehr schlecht."

Der Lockdown hat viel Kinder isoliert, denn ihre Freundschaften sind noch nicht so gefestigt wie im Erwachsenenalter. "Die sind nicht haltbar in einer Zeit, in der alles auf Distanz ist", sagt Bruer. Kinder befinden sich in einer permanenten Entwicklung, die unterbrochen wurde, "die lässt sich nicht aufholen". Kinder und Jugendliche haben ein starkes Autonomiebedürfnis, in der Pandemie "dürfen sie sich nicht mehr ausprobieren". Auch Sylvia Fratton-Meusel, Beratungsrektorin am Erdinger Schulamt schildert, dass die Distanz sehr spürbar sei. In der Beratung "merkt man schon den reduzierten sozialen Kontakt und die Zurückhaltung der Kinder".

Besonders trifft das auf diejenigen zu, die schon vor der Krise Probleme hatten. Eine "Verstärkung der Störungsbilder" beobachtet Fratton-Meusel. Zum Beispiel gebe es "Schwierigkeiten bei Kindern, die vorher schon Schulangst hatten, sie wieder in die Schule zu bringen. Der Abstand ist noch größer geworden." Bruer schildert, dass es viele Rückfälle gegeben habe, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen oder Depressionen. "Die Dynamik hat sich verschärft." Was fehlt, ist oft auch die Struktur, die vorher von der Schule täglich vorgegeben war: "Nachts machen sie Hausaufgaben, tagsüber schlafen sie", sagt Bruer über ihre Patienten. Durch Corona erleben Kinder, dass die Welt gefährlich ist, manche entwickeln Ängste vor sozialen Kontakten, erläutert die Therapeutin. Fratton-Meusel betont, wie wichtig es ist, dass "das Umfeld auch da ist, mit Geschwistern ist das oft einfacher".

Überraschenderweise gibt es unter den Kindern und Jugendlichen tatsächlich geradezu Pandemiegewinner. "Exaltierte Kinder freuen sich richtig auf die Schule", meint Fratton-Meusel. In den kleinen Klassen kämen sie besser zurecht, mit 30 anderen Kindern seien sie oft überfordert. "Kleinere Klassen tun allen gut", bestätigt Bruer. Und auch Mobbingopfern zählt sie zu den Gewinnern, "kann man sich vorstellen, dass es denen besser geht mit Corona". Insgesamt sei die Situation aber alles andere als positiv.

Beratungsrektorin Fratton-Meusel verzeichnete Phasen mit sehr vielen Anfragen, im Moment hätte sich das erst einmal normalisiert. Allerdings geht sie davon aus, dass "noch viel auf uns zukommen wird, nach der Krisenzeit". Einen regelrechten Ansturm auf ihre Praxis stellt dagegen Bruer fest. Sie glaubt, dass das erst einmal so bleibt, denn sie ist überzeugt: "Es wird einen Schaden in der Entwicklung der Kinder geben."

Sie seien gewissermaßen die Ärmsten in der Gesellschaft, und sie müssten die Situation ausbaden. "Auf allen schwebt ein Hauch von Melancholie", sagt sie, "so, wie

wir gelebt haben, so wird es vielleicht nie wieder." Der Medizinball im See, den ihr Patient so eindrücklich beschreibt, das ist für sie eine Metapher dafür, "dass keiner da ist, der die Hand reicht."

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Quelle:
SZ vom 17.06.2021
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