Süddeutsche Zeitung

Inklusion:Zahl der Schulbegleiter fast verdoppelt

Vor fünf Jahren waren es 39, aktuell sind es 74: Immer öfter unterstützen feste Betreuer Kinder mit einem Handicap im Unterricht. Davon profitieren auch die Mitschüler, wenn sie lernen, dass Anderssein normal sein kann

Von NADINE KELLNER, Erding

Ein Raumwechsel, eine Vertretungsstunde und das Geplapper der Mitschüler - eins davon reicht schon, um Kindern mit Beeinträchtigungen wie Autismus und ADHS im Unterricht aus dem Takt zu bringen. Ein fester Betreuer hilft Jungen und Mädchen mit seelischer, geistiger oder körperlicher Behinderung den Schulalltag zu meistern. Und das geschieht immer öfter: 74 Schulbegleiter gibt es in diesem Schuljahr an Regel- und Förderschulen im Landkreis. Das sind 35 mehr als noch vor fünf Jahren. Der Bedarf sei enorm und der Job gefragt, lautet das Fazit der Caritas Erding, die selbst Schulbegleiter vermittelt. Für die Schulen bedeutet die Entwicklung aber auch neue Herausforderungen.

2009 trat Deutschland der UN-Konvention bei, die das Recht auf inklusive Bildung und freie Schulwahl festschreibt. In Bayern wurde zur Umsetzung 2011 das Schulgesetz geändert. Seitdem können alle Eltern ihre Kinder auf Regelschulen schicken. "Kinder mit Autismus oder ADHS mussten früher ohne Schulbegleitung auskommen. Für sie ist das eine tolle Unterstützung", berichtet Tanja Sachs von der Caritas Erding.

Für den Landkreis stellen Caritas, Malteser, Diakonie und Förderschulen Schulbegleiter. Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) Ebersberg übernimmt mit 38 Schulbegleitern den Hauptteil. Die Beobachtungen der Träger stimmen überein: "Es hat einen Haltungswandel gegeben", fasst Gerhard Schönauer zusammen. Er ist Leiter der Ambulanten Dienste für Menschen mit Behinderung der AWO Ebersberg. "Behinderungen werden heute erkannt, statt einfach zu sagen, das Kind sei schlecht erzogen", sagt er. Interesse und Offenheit sind gestiegen, sagt auch Lena Fröhlich, Leiterin des Malteser Schulbegleitdienstes Ost-Oberbayerns. Schulen hätten sich am Anfang schwer getan, zeigten sich aber jetzt aufgrund der Erfahrung offen.

Strukturen und Rituale wahren, eine Auszeit schenken, und eine Hilfestellung, wenn der Überblick verloren geht: Schulbegleiter geben Acht, dass zum Beispiel das richtige Heft und der richtige Stift verwendet wird und das Kind in einem Ruheraum weiterlernen kann, wenn die Belastung durch Lärm und Enge im Klassenzimmer zu stark wird. Sie sind während des Unterrichts oder auch in den Pausen und auf dem Schulweg an der Seite des Kindes. Sie halten sich zurück, greifen erst ein, wenn das Kind nicht mehr weiter kommt.

Daniela Hobmeier, Anleiterin und Koordinatorin der Schulbegleitung der AWO in Erding und selbst Schulbegleiterin, erklärt: Ziel der Schulbegleitung sei, sich entbehrlich zu machen. Sie berichtet von den Veränderungen, die eine Schulbegleitung bringen kann: "Es gibt Schüler, die das Vertrauen in die Schule als Instanz verloren hatten. Durch die Schulbegleitung gewannen sie es plötzlich zurück, ihre Haltung gegenüber Lehrern veränderte sich und sie gingen wieder gerne zur Schule."

Renate Majer, Lehrerin an der Grundschule Langengeisling erlebt in diesem Jahr die erste Schulbegleiterin ihrer Schule. Majer beschreibt die Schulbegleitung als Plus für alle: eine Entlastung für die Lehrer, eine Bereicherung für die Mitschüler und vor allem für den Inklusionsschüler selbst. Majer betont, wie gut Inklusion allen Schülern täte. "Sie lernen unglaublich viel voneinander", sagt die Lehrerin. Kinder in inklusiven Klassen verstehen laut Hobmeier und Majer schneller, dass Anderssein normal ist. Sie würden Selbstreflexion und Rücksichtnahme erlernen. Sogar von den Stärken der Inklusionsschüler profitieren, da Autisten beispielsweise sehr viel ordentlicher und organisierter arbeiten, was die Mitschüler positiv beeinflussen kann. Viele Kinder würden schätzen, dass noch ein zweiter Erwachsener im Raum ist. Die Schulbegleitung sei wie ein Fels in der Brandung, sagt Majer.

Doch nicht alles läuft rund. Für viele Schulen bedeutet die Entwicklung immer noch einen gehörigen Kraftaufwand, es gibt Klagen, dass es an sonderpädagogischer Ausbildung und personellen Ressourcen fehlen. Die Kosten für die Begleiter teilen sich die Jugendämter und der Bezirk Oberbayern. Das Jugendamt zahlt für die Schulbegleiter von Kindern mit seelischen Beeinträchtigungen. Auf Nachfrage schreibt das Landratsamt Erding, dass die Inklusion "im schulischen Bereich aufgrund weiterhin unzureichender personeller und sächlicher Ausstattung der Schulen von Jahr zu Jahr verstärkt zu Lasten der öffentlichen Jugendhilfe" gehe.

Gerhard Schönauer von der AWO lobt das finnische Schulsystem. Klassen würden darin von einem Duo aus Sonderpädagoge und Lehrkraft geleitet. Sowohl Schüler mit Behinderung als auch überdurchschnittlich gute Schüler, sollten eine individuelle Förderung erhalten. Auch Tanja Sachs von der Caritas sagt, dass prinzipiell ein anderes Schulkonzept nötig sei. "Eine Schule für alle."

Es gibt auch Eltern, die sich bewusst dafür entscheiden, dass ihr Kind eine Förderschule besucht. Die Förderschulen wiederum stehen in Kontakt mit Regelschulen und bieten zur Unterstützung stundenweise einen mobilen Dienst an. Michael Oberhofer, Rektor der Grund- und Mittelschule Isen, an der zwei Schüler die Unterstützung beziehen, betont: "Schulbegleiter sind in der Inklusion nur ein ganz kleiner Baustein. Es gibt so viele Werkzeuge und Wege, wie den Schulsozialdienst und den mobilen Dienst der Förderschulen. Was zählt, ist, das Passende zu finden." Schulleiterin Helma Wenzl vom Anne-Frank-Gymnasium, an dem vier Schulbegleiter tätig sind, ergänzt: "Es ist eine große Herausforderung für eine Schule, aber trotzdem eine pädagogische Leistung, die die Schüler verdient haben."

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Quelle:
SZ vom 14.11.2017
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