Süddeutsche Zeitung

Historie in Erding:Unbemerktes wahrnehmen

Im vorerst geschlossenen Museum Erding wird die Ausstellung "Erding 1945 - wessen Heimat?" eröffnet

Von Florian Tempel, Erding

Schon vor mehr als einem Jahr hätte im Museum Erding die Sonderausstellung "Erding 1945 - wessen Heimat?" eröffnet werden sollen. Nun ist es - etwas absurd bleibt es - endlich so weit. Die Ausstellung ist am Freitag Abend in einer geschlossenen Veranstaltung für eröffnet erklärt worden, wobei sie vorerst niemand besuchen kann. Der Grund ist derselbe wie vor einem Jahr: Die Pandemie lässt es nicht zu. Das Ende der Ausstellung ist vorerst auf den 31. Mai festgelegt worden.

Konzipiert hat sie der Erdinger Historiker Giulio Salvati. Die Ausstellung stellt seine Forschungsergebnisse zu mehreren miteinander zeitlich und inhaltlich verwobenen Themen vor. Es geht um die Bombardierung Erdings am 18. April 1945, Zwangsarbeiter im Landkreis in der NS-Zeit, Konflikte um Wohnraum und sexuelle Gewalt vor und nach 1945 sowie die Beziehung von Einheimischen zur US-Militärregierung.

Migration und Gewalterfahrung, Faschismus und Zweiter Weltkrieg ergeben spannende Schnittmengen, die Salvati besonders interessieren und aus denen er als Historiker starke Ergebnisse herausgearbeitet hat. Alles begann für ihn vor acht Jahren, als er in Jena einen Masterstudiengang in Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts absolvierte und ein Seminar über Gedenkkultur belegt hatte. "Da habe ich angefangen, mir die Denkmäler in Erding mit einem anderen Blick anzuschauen" und "Dinge, die da sind, aber unbemerkt bleiben", genauer zu betrachten und zu hinterfragen. Er entdeckte nicht-deutsche Namen auf dem Denkmal am Grünen Platz, das an die Opfer der Bombardierung Erdings am 18. April 1945 erinnert. Er fand die Namen auch auf den getippten Opferlisten von damals - "und dann habe ich angefangen, in den Archiven zu graben". Schnell wurde ihm klar, dass es sich bei den vergessenen Opfern um Fremd- und Zwangsarbeiter handelte.

Daneben ließ Salvati auch die Bombardierung an sich nicht mehr los. Er hat anhand von originalen Unterlagen aus US-Archiven herausgefunden, dass die amerikanischen B 17-Bomber die Stadt am 18. April 1945 aus einem fatalen Irrtum bombardierten: Sie sollten den Freisinger Rangierbahnhof zerstören, stießen aber zuvor auf Erding, fanden keinen Rangierbahnhof und warfen ihre Bomben ersatzweise auf das ab, was sie als industrielles Zentrum ausmachten. Sie nahmen die Molkerei und die Brauerei in der Haager Straße ins Visier. Schon 2020 hat Salvati seine Forschungsergebnisse veröffentlicht. Dieses Jahr legt er nach und zeichnet auf einer interaktiven Karte auf seiner Seite www.erding-geschichte.de die Bombardierung nach. Darüber hinaus stellt er von diesem Wochenende an zahlreiche Einsatzberichte, Fotos und andere Dokumenten zur Bombardierung bereit.

Zwangsarbeit in der NS-Zeit ist seit der Einrichtung der "Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" zu einem großen Thema in der deutschen Geschichtsforschung geworden. Die Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder und die deutsche Wirtschaft hatten die Stiftung mit je fünf Milliarden D-Mark ausgestatten, in erster Linien um Entschädigungen an NS-Zwangsarbeiter auszuzahlen. 26 große Unternehmen, die in das System Zwangsarbeit involviert waren und es in der NS-Zeit mittrugen - wie beispielsweise Siemens, BMW oder die Lufthansa - leisteten finanzielle Beiträge.

Zwangsarbeit hatte aber nicht nur in den großen Firmen stattgefunden, sondern im kleineren Rahmen auch in Erding. Wobei das nicht missverstanden werden darf. Salvati hat in den Archiven die Daten von etwa 8000 Frauen, Männern und Kindern gefunden, die von den Nazis zur Ausbeutung durch Zwangsarbeit in den Landkreis verschleppt wurden. Dass es so viele waren, war die erste wichtige Erkenntnis.

2016 kam Salvati in Verbindung mit dem Oberdinger Bildhauer Wolfgang Fritz. Er hatte Jahre zuvor schon auf einem Hof in Notzing alte landwirtschaftliche Geräte entdeckt, die bereits mit Bäumen und Büschen verwachsen waren. Auf dem Hof hat Henryk Paplicki gelebt, der als polnischer Zwangsarbeiter nach Notzing gekommen und nach dem Krieg dort als Knecht geblieben war. Salvati und Fritz begaben sich gemeinsam auf die Spurensuche. Der Historiker recherchierte zu seinem Leben, der Bildhauer verarbeitete Fundstücke aus Metall und Holz zu Skulpturen, die nun in der Ausstellung im Museum zu sehen sind - sobald geöffnet wird.

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Quelle:
SZ vom 17.04.2021
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