Süddeutsche Zeitung

Gesundheit:Realisieren, dass man in Sicherheit ist

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SPD und Helferkreise befassen sich mit der psychischen Belastung von traumatisierten Flüchtlingen

Von Melanie Schwarzbauer, Erding

"Wir sind jede Stunde gestorben, dann wieder aufgewacht." Mit diesem bedrückenden Zitat leitete Anni Kammerlander, ehrenamtliche Vorsitzende der "Refugio" München, Beratungsstelle für Trauma und Folter, ihren Vortrag zum Thema "Psychische Belastung bei Flüchtlingen als Folge von Verfolgung, Krieg und Flucht" ein. Die SPD-Fraktionsvorsitzende des Erdinger Kreistags Ulla Dieckmann lud Kammerlander nicht grundlos ein, viele Menschen wollen helfen, wissen aber nicht, wie man mit traumatisierten Flüchtlingen umgehen muss. Das machte sich auch in der Besucherzahl deutlich, denn Mitglieder von Helferkreisen aus den Landkreisen Erding und Ebersberg waren so zahlreich erschienen, dass die Bestuhlung im Saal aufgestockt werden musste. "Die Flucht, das Kriegsgeschehen und der Verlust von Freunden und Verwandten geht an den Flüchtlingen nicht spurlos vorbei, sie sind traumatisiert und manche leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung," erläuterte Kammerlander. Teilweise leiden Menschen unter solch einer "Extremtraumatisierung", dass jeglicher Bezug zur Gegenwart in bestimmten Situationen verloren geht. "Ich hatte eine Patientin, die jede Nacht schreiend aufgewacht ist, und dachte, sie wäre in ihrer Heimat. Ich habe ihr geraten einen Gegenstand, in diesem Fall rote Schuhe, die sie sich in München gekauft hatte, in die Hände zu nehmen. So konnte sie realisieren, dass sie in Sicherheit ist", sagte Kammerlander. Aber laut Kammerlander müsse sich auch der Helfer vor psychischen Belastungen schützen, "man spricht hier von der Psychohygiene". "Es ist wichtiger denn je, sich einzugestehen, dass man von den tragischen Erzählungen mitgenommen ist und man sollte versuchen, Distanz zu wahren. Viele Helfer leiden unter Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Übermüdung, was ein Zeichen für eine Überlastung ist", sagte Kammerlander und gab zu, selbst an ihre Grenzen gestoßen zu sein. "Den Flüchtlingen eine geregelte Struktur vorgeben" ist laut Kammerlander einer der wichtigsten Punkte, wie man den Menschen unter die Arme greifen kann.

Nach dem Vortrag hatte das Publikum Gelegenheit, Fragen an die Refugio-Vorsitzende zu richten, die kaum ein Ende fanden. Vor allem die geringe Anzahl von Therapieplätzen und die wenigen Dolmetscher stellen in den Augen der Helferkreise ein großes Problem dar. Kammerlander erläuterte, dass es zwei Mal im Jahr die Möglichkeit gebe, 50 Patienten für einen Therapieplatz bei "Refugio" aufzunehmen. Die Nachfrage aber sei drei mal so hoch. Sich untereinander austauschen und mit anderen Helferkreisen über Erfahrungen sprechen ist laut Kammerlander essenziell, um möglichst effektiv mit Flüchtlingen umgehen zu können. Auf die Frage, ob und wenn ja wie tief gehend man sich als Helfer über die familiäre Situation erkundigen darf, fand man keine Lösung. Allerdings gab es vom Mitglied eines Helferkreises eine Wortmeldung, der über positive Erfahrungen damit berichtete. Abschließend äußerte Ulla Dieckmann die Hoffnung, dass Dank der Fachstelle für Helferkreise die problematische Situation im Landkreis sich entspannen werde.

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Quelle:
SZ vom 19.11.2015
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