Süddeutsche Zeitung

Geschichtsforschung:"Wem gilt unsere Empathie?"

Der Historiker Giulio Salvati forscht intensiv zur NS-Zeit in der Stadt und dem Landkreis Erding. Ein Gespräch über den bemerkenswerten Streit zuletzt in Dorfen, andere Blickwinkel und neue Möglichkeiten in der Lokalgeschichte

Interview von Florian Tempel

Migration und Gewalterfahrung, Faschismus und Zweiter Weltkrieg, das ergibt spannende Schnittmengen, die Giulio Salvati besonders interessieren. Auf lokaler Ebene hat der 32-jährige Historiker unter anderem über die Bombardierung Erdings sowie Zwangsarbeiter in der NS-Zeit im Landkreis geforscht und dazu eine Datenbank als digitales Denkmal aufgebaut. Er hat in München und Bamberg Politikwissenschaft und Soziologie studiert, in Jena einen Masterstudiengang in Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts absolviert und an der New York University ein Promotionsstudium angeschlossen. In seiner Dissertation vergleicht er, wie es nach 1945 Vertriebenen in Deutschland und in Italien erging. Aktuell ist er für einen Forschungsaufenthalt im Deutschen Studienzentrum in Venedig, wo die SZ ihn per Videoschaltung erreicht hat.

SZ: Herr Salvati, zuletzt gab es in Dorfen einen Streit unter Lokalhistorikern. Ein bemerkenswerter Vorgang, über den wir mit Ihnen reden wollen. Was war da los?

Giulio Salvati: Lokalgeschichte geht unter die Haut. Die Leute fühlen sich angesprochen, in einer sehr intimen Art und Weise. Deswegen kann sie auch starke Reaktionen hervorrufen. Sie kann Leute verstören, irritieren oder gar wütend machen. Das ist bei wissenschaftlichen Debatten kaum der Fall. Eigentlich muss man doch sagen, ist es nicht toll, dass sich Leute über Geschichte streiten? Geschichtsschreibung war auch in Dorfen lange Zeit einigermaßen unsichtbar. Der Streit um Argumente fand jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit statt. Dabei geht es auch hier um eine Grundfrage, welche Idee wir von unserer Gesellschaft haben, was unsere Gemeinschaft ausmachen soll. Da wir in der Demokratie leben, gehört dazu - da bin ich ein starker Befürworter -, dass wir eine Streitkultur haben. Natürlich eine Streitkultur in einem gesetzten Rahmen, kein entgrenzter Streit ohne Belege. Aber dass man eben auch anderer Meinung sein darf, andere Ideen und Argumente gegeneinander anführen kann und das Ganze transparent macht.

Sie beschäftigten sich als Historiker intensiv mit lokalen Themen. Sie haben in Erding zu Zwangsarbeitern in der NS-Zeit geforscht und mit freiwilligen Mitarbeitern eine Datenbank dazu aufgebaut. Wie ist Ihre Erfahrung mit der lokalen Geschichtsarbeit?

Was mich am meisten gewundert hat: dass die Zeitungsaufrufe, bei dem Projekt mitzumachen, Dutzende Menschen erreicht haben die insgesamt Hunderte von Arbeitsstunden in Ehrenamt geleistet haben. Es hat mich verblüfft, dass Menschen bereit sind, für Geschichte tätig zu sein. Das ist auch etwas Neues. Solche kollektiven Projekte hat es bislang kaum geben.

Ein Interesse für die Vergangenheit im Allgemeinen zeigt sich in vielen Bereichen. Ahnenforschung ist sehr beliebt, es gibt vielerorts Heimatmuseen, um die sich Menschen gemeinsam kümmern. Und es gibt viele, die sich wichtige Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit Geschichte erhoffen. Schon Cicero hat gesagt, man würde aus der Geschichte lernen. Kann auch die Lokalgeschichte einen Beitrag zu dieser Hoffnung leisten?

Wir könnten eine sehr große Bibliothek füllen mit Büchern über diese Frage. Das Faszinierende an Lokalgeschichte ist tatsächlich auch für mich: Wenn man ein Thema vorstellt, wie etwa das Leben der Zwangsarbeiter, da kommen in Erding über hundert Menschen. Wann erreicht man als Historiker eine solch ungeteilte Aufmerksamkeit? Und das passiert auch in Dorfen, auch dort kann man einen Saal mit lokalgeschichtlichen Themen füllen.

Zurück zum Streit der Lokalhistoriker in Dorfen. Worum ging es, wenn man es etwas tiefer betrachtet?

Die große Frage, über die sich in Dorfen die Geschichtswerkstatt und der Historische Kreis streiten, ist eine gesamtdeutsche Frage: Wem gilt unsere Empathie, wem gilt unser Interesse als Geschichtsschreiber und Geschichtsinteressierte? Ist es "unsere" Geschichte, also von uns, die hier wohnen und die hier geblieben sind? Mache ich das für mich selbst und für einen kleinen Umkreis? Oder gilt die Empathie ein Stück weit auch anderen Leuten, die nicht hier geblieben sind: Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, jüdische Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg. Wem gilt unsere Empathie? Das unterliegt einem ständigen Wandel. Das "Uns" kann sich erweitern. Ein Beispiel: Das "Uns" nach dem Zweiten Weltkrieg waren, ganz einfach, in jeder Stadt die gefallenen Soldaten. Die Flüchtlinge aus Schlesien oder dem Sudetenland gehörten erst mal nicht dazu. In Erding ist etwa das Denkmal der Sudetendeutschen außerhalb des historischen Friedhofs. Erst nach viele Debatten hat man gesagt, die Vertriebenen gehören auch zur Geschichte unserer Kreise und Städte. Heute ist das selbstverständlich. Daraus kann man etwas lernen: Dass wir in der Lage sind, das "Uns" zu erweitern.

In Dorfen haben Hans Elas, Monika Schwarzenböck und andere von der Geschichtswerkstatt einen Beitrag von Franz Streibl vom Historischen Kreis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als zu subjektiv und unkritisch beklagt. Streibl nennt den Text einen Zeitzeugenbericht. Nun sagen alle, Zeitzeugenberichte sind wichtig. Wenn dann einer einen schreibt, ist es doch nicht recht - worin liegt die Problematik?

Wir wollen Zeitzeugen und wir lieben Zeitzeugenberichte als Korridor in die Vergangenheit. Das ist eine wichtige Sache gewesen, etwa um den Holocaust sichtbar zu machen, durch Berichte von Menschen, die ihn erlebt haben. Das Problem: Zeitzeugen sterben aus. Man muss die Idee des Zeitzeugenberichts also langsam auslaufen lassen. Einen Menschen, der zum Kriegsende fünf Jahre alt war, einen Zeitzeugenbericht schreiben zu lassen, da passt etwas nicht. Und das sagt Franz Streibl ja auch selbst: er hat das meiste aus späteren Erzählungen zusammengetragen. Ist das noch ein Zeitzeugenbericht? Aus wissenschaftlicher Sicht würde ich sagen, nein, das ist eher ein Familiengedächtnis, aber kein Zeitzeugenbericht.

Es gibt das Diktum "ohne Quellen keine Geschichte". Wie wichtig und notwendig ist das auch im lokalen Bereich?

Diejenigen, die früher in den Dörfern und kleinen Städten Geschichte geschrieben haben, benutzten oftmals keine Quellen. Die Lokalhistoriker waren in erster Linie Pfarrer. Das hat sich später erweitert auf Lehrer, die die Kenntnisse und das Interesse hatten, Geschichtsschreibung zu betreiben. Das Problem ist aber, dass diese Menschen oftmals keine Quellen gebraucht haben, weil sie einfach Autorität an sich hatten. Sie dachten, ich kann aus meiner Autorität, aus meiner Stellung heraus Geschichte schreiben. Heute ist das nicht mehr möglich, weil wir so viele Leute haben, die auch in der Lage sind, zu fragen, "stimmt das wirklich?" Deswegen wird die Quelle, woher das Zitat kommt, immer wichtiger. Aber natürlich hat jeder das Recht auf eine eigene Geschichte und natürlich hat Franz Streibl das Recht auf eine Familienerzählung.

Ist Geschichtsschreibung in einem neutralen Wie-es-war-Modus überhaupt möglich? Auch Historiker haben Positionen in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht, die sie und ihre Arbeit beeinflussen.

Es gibt ein spannendes Buch dazu, "Der Blick von nirgendwo" des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel. Tatsächlich müsste Positionslosigkeit heißen, man hätte eine Perspektive von einem Alien-Raumschiff aus. Das geht nicht. Allein wenn wir etwas betrachten, haben wir schon unterschiedliche Interessen. Wenn Franz Streibl aufs Kriegsende zurückblickt, sieht er seine Familiengeschichte, die Erzählungen seiner eigenen Familie, und er sieht die Kriegsgefangenen auf den Fotos, wie sie lächeln. Hans Elas und Monika Schwarzenböck schauen sich das auch an und sie kennen die Bücher, die in den letzten Jahrzehnten über die Behandlung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern geschrieben wurden. Bei Streibl merkt man zum Beispiel, dass er gar nicht daran denkt, dass es weibliche Zwangsarbeiterinnen gab. Dabei gab es Dutzende polnischer Frauen, die nach Dorfen verschleppet worden waren. Dieser blinde Fleck reflektiert seinen Standpunkt und die gängigen Erzählungen. Die Geschichtswerkstatt bringt hingegen den Forschungs- und Kenntnisstand der letzten 30 Jahre mit, der mittlerweile zum wissenschaftlichen Kanon gehört.

Es gibt nicht nur ein aktuell starkes Interesse an Lokalgeschichte, sondern auch neue Möglichkeiten. Der Historische Kreis Dorfen hat zum Beispiel dank eines Sponsors eine beeindruckende digitale Bildergalerie mit alten Fotos und Dokumenten auf seiner Homepage aufgebaut.

Ich bin schon neidisch, was der Kreis für eine Homepage hat. Wenn ich Geld hätte, würde ich so etwas Ähnliches auch für Erding gern machen. Aber die Frage ist schon, wozu sind diese Mittel da. Beim Historischen Kreis geht es darum, einige spannende Dokumente zu zeigen. Es könnte mehr sein. Es könnte eine Art Mitmach-Plattform sein, auch weil man damit die eigene Forschung befördern könnte. Das Internet nur als Vitrine zu benutzen, als digitale Außenstelle eines Heimatmuseums, das ist wenig und ein bisschen schade.

Wäre es wichtig, wenn sich lokalgeschichtliche Gruppen im Internet vernetzen?

Man kann so ein Stück weit die lokale Geschichte auch Leuten anderswo näher bringen, weil ich sie erreiche über die Daten und Ressourcen, die ich für weitere Forschung online stelle. Zum Beispiel bei meiner Datenbank zu Zwangsarbeitern im Landkreis Erding. Ich bekam vor ein paar Tagen eine Dankesnachricht von jemandem, der über die Deportation einer bekannten Familie forscht, deren Namen sich in der Datenbank findet. Oder ein anderes Beispiel: Am Tag der Bombardierung von Erding am 18. April will ich einen sogenannten "Data Dump" machen. Ich werde mehrere hundert Akten zur Bombardierung Erdings auf einen Schlag online stellen, mit Berichten, Plänen und Fotos. Die Leute können sich dann selbst da durchwühlen und debattieren

Es gab lange Zeit die Meinung, dass man zu vielen Ereignissen keine Dokumente hat. Muss man lernen, auch auf lokaler Ebene bewusster Archive zu benutzen?

Ja, da muss sich die Sensibilität bei den Heimatforschern, Museen und Archivaren noch wandeln. Dass man wirklich anfängt, Dokumente zu sammeln und zusammenzutragen und sensibel zu sein für scheinbare Bruchstücke vom Leben anderer Menschen. Von jüdischen Flüchtlingen oder Zwangsarbeitern hat jede Gemeinde Dutzende Listen mit Namen. Das scheint nicht viel herzugeben, aber sie sind vielleicht in einem größeren Kontext wichtig. Das ist auch etwas, was wir aufbewahren müssen und Teil der ausgestellten Geschichte sein sollte. Ich habe noch in diesem Jahr in Erding gehört: Zum Thema Deportierung haben wir nichts. Was nicht stimmt! Man hat nicht sehr viel, aber man hat genug, dass man anfangen könnte zu graben. Die Haltung "wir haben nichts" oder "wir wissen nichts", hat in Dorfen dazu geführt, dass ein ganzes Buch geschrieben wurde! Diese Absurdität zeigt die mangelnde Sensibilisierung, die es noch überall gibt.

Sie meinen das Buch "Wie kam der Davidstern nach Dorfen?" Zum Schluss war nicht nur das aufgeklärt, sondern es kamen zwei Frauen aus Israel, die in Dorfen auf die Welt gekommen sind, zu einer großen Veranstaltung in den Jakobmayer. Da hat sich nicht nur in einem Buch, sondern mit lebenden Menschen ein Kreis geschlossen. Man kann auch das Internet sehr gewinnbringend nutzen. Dort hat zum Beispiel Hans Elas den NS-Widerstandskämpfer Karl Wastl gefunden, der aus Dorfen stammte, und über den ein Student aus Bremen in Berlin eine Arbeit geschrieben hat.

Ein perfektes Beispiel. Menschen wandern, Menschen migrieren. Das Internet erlaubt, ein größeres Netz für die Forschung zu werfen. Es hilft, Dinge, die sich jenseits der Stadtgrenze abgespielt haben, aber mit dem Ort zu tun haben, zu rekonstruieren und einzuordnen. Das Digitale kann uns helfen Lokalgeschichte transparent zu machen, aber auch Debatten und Partizipation zu fördern - darauf sollten wir uns aber auch einlassen können.

Im Internet finden sich die lokalhistorischen Arbeiten von Giulio Salvati auf erdinger-geschichte.de.

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Quelle:
SZ vom 21.11.2020
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