Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge in Bayern:Syrische Familie trifft sich in Erding wieder

Rita Frieß hat Syrien vor Jahren verlassen - nun sitzt die Familie ihres Onkels auf ihrem Sofa. Doch der Besuch ist nur kurz.

Von Sebastian Fischer, Erding

Als Albert Altaweel im Meer vor der griechischen Insel Kos trieb und um sein Leben und das seiner Familie fürchtete, hat er seiner Tochter das Schwimmen beigebracht. Altaweel sprang mit Diana, 8, im Arm aus einem Flüchtlingsboot. Während rechts und links von ihm Menschen um Hilfe schrien, für manche die Hilfe zu spät war, ließ er Diana immer wieder für ein paar Sekunden los. Er sagte: "Jetzt üben wir zusammen." Er dachte: Bitte, lass uns nicht sterben. 53 Tage ist das her.

Es ist still im Wohnzimmer von Rita Frieß in Erding, als Altaweel diese Geschichte am vergangenen Mittwoch erzählt. An diesem lauten, fröhlichen Abend.

Seit dem 5. September hat Frieß gehofft, dass es diesen Abend einmal geben würde. Damals verließen ihr Onkel, seine Frau Faten und die Töchter Sandra und Diana die syrische Hauptstadt Damaskus mit der Aussicht auf ein Leben ohne Krieg. Seitdem haben sie jeden Tag telefoniert: Als die erste Überfahrt nach Europa scheiterte. Als sie in der Türkei festsaßen. Als sie durch Serbien, Kroatien, Slowenien wanderten, viele Tage und Nächte lang. Nun sitzen alle zusammen am gedeckten Tisch, der warme Duft von Knoblauch und Zwiebeln, Bulgur und eingelegtem Gemüse erfüllt den Raum. Im laufenden Fernseher besiegt der FC Bayern den FC Arsenal.

Ein Märchen, das noch nicht zu Ende erzählt ist

In Deutschland im Herbst 2015 ist so ein Wiedersehen in Erding wahrscheinlich eine gewöhnliche Geschichte. Doch für Rita Frieß, 45, ist das alles wie ein Märchen, das sie noch nicht ganz begreifen kann. Ein Märchen, das noch lange nicht zu Ende erzählt ist. Am nächsten Morgen wird sie sich erst mal wieder verabschieden müssen von ihrer Familie, für deren Ankunft sie wochenlang gekämpft hat.

Albert Altaweel, 55, ein wuchtiger Mann mit weißen Haarkranz und ansteckendem Lächeln, sitzt entspannt auf dem Sofa seiner Nichte. Er trägt einen warmen Pullover und eine Jeans, Spenden der Nachbarn, Frieß hatte sie noch nicht bei der Flüchtlingshilfe abgegeben, als hätten sie auf ihren Onkel gewartet. Altaweel erzählt die Geschichte, die seine Familie nach Erding geführt hat, ruhig und konzentriert auf arabisch. Das wichtigste betont er in brüchigem Englisch, den Rest übersetzt seine Stieftochter Sandra, 21.

Die Geschichte beginnt mit seiner eigenen, die viel verrät über die Verzweiflung, die Millionen Syrer gerade antreibt, ihr Land zu verlassen. Ihr Onkel, sagt Frieß, sei ein belesener Mann. Interessiert, nie mit einfachen Antworten zufrieden. Er war die Bezugsperson in ihrer Kindheit, die sie bei ihrer Großmutter in Damaskus verbrachte. Er habe ihr oft Geschichten vorgelesen, sagt sie - bis er eines Tages nicht mehr da war: Frieß war 13, als ihr Onkel verhaftet wurde.

Er hatte Antworten wissen wollen auf Fragen, die er in Syrien nicht stellen sollte - als Oppositioneller gegen den damaligen Diktator Hafiz al-Assad. 20 Jahre lang habe Altaweel kein Buch gelesen, das war im Gefängnis verboten, sagt er. 20 Jahre, über deren genaue Hintergründe er im Erdinger Wohnzimmer lieber nicht reden möchte. Er sagt kaum etwas Schlechtes über das gnadenlose Assad-Regime. Er sagt: "Der Preis für unseren Traum von Demokratie war zu hoch." Arabischer Frühling? "Bei uns ist seit fünf Jahren Winter."

In Damaskus wütet der Bürgerkrieg auch im fünften Jahr noch nicht so schlimm wie in den Vororten, den von Rebellen besetzten Gebieten, wie in Aleppo oder Palmyra. Die Familie hat lange gezögert, ihre Heimat zu verlassen. Zuerst hätten sich die Menschen auf der Straße erzählt, dass es in ein paar Monaten besser werde. Dass wieder Frieden einkehren werde, und wenn eben unter der Diktatur von Assad.

Doch als aus den Monaten ein Jahr wurde, dann mehrere Jahre, haben sie sich gedacht, dass es schlechter nicht werden könne. Albert gab seinen Job auf, Sandra ihr Chemiestudium in Homs. In einer Gruppe aus 15 Menschen, Nachbarn und Freunde, machten sie sich auf, über die Grenze in den Libanon, mit dem Flugzeug nach Istanbul. Von dort an die Küste nach Bodrum und auf ein Boot. Die Endstation, vorerst.

Sie haben überlebt

Von dem Boot, mit dem Altaweel und seine Familie nach Griechenland wollten, war europaweit in der Zeitung zu lesen. Es sank, eingekreist von der türkischen Küstenwache, die 211 Menschen das Leben rettete. Zu spät, sagten viele Flüchtlinge. Zu spät, sagt Altaweel: 22 Menschen starben. Amnesty International fordert von der türkischen Regierung seitdem Aufklärung, bislang ohne öffentliche Reaktion.

Die Familie Altaweel hat überlebt. Diana sitzt im Pyjama auf dem Sofa neben ihrem Vater, frisch geduscht, ein Handtuchturm auf dem Kopf. Sie versteht nicht was er sagt, doch worüber er spricht. Sie zeigt ein Facebook-Bild auf dem Smartphone ihrer Mutter: Menschen, dicht gedrängt und gegen die Reling gepresst, die Arme zum Hilferuf gen Himmel gereckt. Diana sollte schwimmen, als wäre das alles ein Spiel. "Wir haben gewonnen", sagt sie.

Das Leben gewonnen, die Flucht verloren, so schien es. Denn die türkische Polizei brachte 211 Menschen nach Osmaniye, in ein Lager nahe der Grenze und drohte mit der Abschiebung in syrisches Kriegsgebiet, auch das prangert Amnesty International an. Ein türkischer Regierungssprecher wies Anschuldigungen im Gespräch mit dem Guardian zurück. Faten, Alberts Frau, schickte eine WhatsApp-Nachricht nach Deutschland: "Wir sind gefangen."

Die Cousine setzte sich für die Familie ein

Es war dies die Zeit, als Rita Frieß zu verzweifeln begann. Sie saß in der Erdinger Redaktion der Süddeutschen Zeitung, um die Geschichte öffentlich zu machen, sie schrieb an das Auswärtige Amt, sie telefonierte mit Flüchtlingshelfern, wie sie selbst eine ist, seit die ersten Syrer nach Erding kamen. Nach 21 Tagen durfte ihre Familie Osmaniye verlassen. 14 Tage später brachte sie ein Boot von Didim an der Ägäisküste nach Farmakonisi, Griechenland, das nächste Boot fuhr sie ans Festland. In Athen schlief die Familie Altaweel zwei Nächte lang, "da war das Schlimmste vorbei", sagt Sandra, die Tochter.

Sie juchzt, als Thomas Müller das 2:0 für die Bayern gegen Arsenal schießt. Der Tisch ist mittlerweile abgeräumt. Sandra ist Bayern-Fan, die Spiele hat sie in Homs im Fernseher gesehen, jetzt ist sie nur ein paar Kilometer entfernt von der Arena in Fröttmaning, die wie ein Schlauchboot aussieht. Wie ein in rotem Licht leuchtendes. Nicht wie die im Mittelmeer.

Sie ist ehrgeizig, spricht fließend englisch, mit ihrem Studium war sie fast fertig. Doch sie will ja auch etwas von ihrem Abschluss haben. Legal darf sie nicht ausreisen, "die Flucht war der einzige Weg", sagt sie. Zuerst war Norwegen das Ziel, dann Schweden, dann Deutschland. Auch, weil hier Frieß, die Cousine wohnt: "Es fühlt sich ein bisschen an, wie zu Hause."

Am vergangenen Montag holte Frieß ihre Familie mit dem Auto aus Freilassing vorerst für drei Nächte zu sich nach Hause nach Erding, auch Sandras Cousin Rawad und ein Freund von ihm aus Damaskus waren dabei. Zu sechst haben sie sich von Athen bis Salzburg durchgekämpft, im wahren Wortsinn. Sie erzählt von Ellenbogen in ihrer Magengrube an der slowenischen Grenze, von ellenlangen Fußwegen in Serbien und Kroatien, teuren Taxifahrten.

Insgesamt hat die Familie für die Flucht bislang 16 000 Euro bezahlt. Sandra, die mit Nachnamen wie ihre Mutter heißt, den Namen jedoch lieber nicht veröffentlicht wissen will, kann nicht sagen, in wie vielen Zelten und Camps sie geschlafen hat, jeweils für ein paar Stunden. Überall so viele Menschen. Nicht alle freundlich und willens, sich zu integrieren, das müsse auch in der Zeitung stehen, sagt sie.

Wie erklärt man Europa?

Warum, fragt ihr Stiefvater dann, würde Deutschland eigentlich die Menschen, die es aufnehmen will, zunächst der Illegalität überlassen? Er versteht es nicht. Ja, warum? Was ist die passende Antwort für einen Vater, der mit seiner Familie erschöpft auf der Balkan-Route gewandert ist? Wie erklärt man Albert Altaweel dieses Europa, das er bisher kennengelernt hat?

"Es war viel härter, als wir uns das vorgestellt haben", sagt Sandra: "Aber das Glück kehrt zurück." Sie seien völlig erschöpft gewesen, erzählt Frieß, als sie die sechs in Salzburg am Hauptbahnhof wiedersah, ihren Onkel umarmte, das erste Mal seit fünf Jahren. Damals war Damaskus noch Urlaubsort. Auch Frieß ist erschöpft. Sie kümmert sich weiter laufend um Flüchtlinge in Erding, arbeitet als Friseurin, ist Mutter von zwei Söhnen, ihr Mann Robert sagt nur: "Es ist Wahnsinn." Sie sagt: "Hauptsache meiner Familie geht's gut."

Thomas Müller schießt gerade das 5:1, es herrscht Partystimmung im Wohnzimmer von Rita Frieß. Nur Albert Altaweel verfällt wieder und wieder in den Sekundenschlaf, aber eines sagt er noch. Einen arabischen Reim für das Ende eines Märchens, ein wenig umgedichtet: Tute Tute/Chalset Alhatute/Ua schfna Ratute. "Ende gut, alles gut. Und wir haben Rita gesehen"

Ende gut, alles gut? Vieles ist ungewiss. Am Donnerstagmorgen hat Frieß ihre Familie zum Warteraum Asyl gefahren. Der ist nah, dort sollten sie sich registrieren, möglichst alles nach Vorschrift. Doch wo sie von dort aus hinkommen und wann die Behörden über ihre Zukunft entscheiden, weiß niemand. Sandra sagt: "Natürlich machen wir uns Sorgen." Sie lächelt.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2015/axi
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