Stadtentwicklung:Die Stadt der Zukunft ist autofrei

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Der Platz Dumon bei Brüssel: Hier befanden sich einmal 60 Stellplätze. Der entstandene Spiel- und Kommunikationsraum habe dem Einzelhandel zu mehr Umsatz verholfen, sagt Stefan Carsten. (Foto: ARTGINEERING/ Martin Grabner)

Wohnen ohne eigenes Auto? Das geht, sagt der Berliner Zukunftsforscher Stefan Carsten bei einem Vortrag im Museum Erding. Der künftige Stadtteil auf dem Fliegerhorstgelände will mit gutem Beispiel voran gehen.

Von Regina Bluhme, Erding

Erst mit dem E-Bike zur nächsten Bushaltestelle und von dort mit dem autonom betriebenen Transporter weiter zum neuen Erdinger S-Bahnhof. So könnte in einigen Jahren der Weg zur Arbeitsstelle aussehen. Während der Vortragsreihe zur Konversion des Fliegerhorsts hat Zukunftsforscher Stefan Carsten kürzlich die Zuhörerschaft im Museum Erding mitgenommen auf eine rasante Fahrt. "Wohnen ohne eigenes Auto" soll auch auf dem künftigen neuen Erdinger Stadtteil am Fliegerhorstgelände funktionieren.

Auf dem Areal des Fliegerhorsts Erding wird nach Abzug der Bundeswehr ein neuer Stadtteil heranwachsen. Das Gelände wird durchzogen von einem autofreien zentralen Bereich, einem "Boulevard", so Professor Mathias Hähnig vom Büro Hähnig Gemmeke Architekten aus Tübingen. Der motorisierte Verkehr soll von außen abgefangen werden durch eine Ringerschließung und Quartiersgaragen. Eine "15-Minuten-Stadt" ist das Ziel: Im Umfeld von 15 Minuten sollen von Zuhause aus Kitas, Alteneinrichtungen, Arbeiten, ÖPNV und Einkaufen erreichbar sein.

Tankstelle der Zukunft: Mobility Hubs verbinden Individualverkehr mit ÖPNV oder Carsharing-Angeboten. In diesem Hub (Project MoBo) können die Nutzer E-Bikes aufladen, Fahrräder mieten, Pakete abholen, am PC arbeiten oder in Büchern schmökern. (Foto: Theory Into Practice/ Studio superb. Visualisierung)
Christian Famira-Parcsetich steht im Museum Erding vor dem Modell des Neuen Bahnhofs Erding - oder vielmehr steht er mittendrin: Um zu verdeutlichen, wie die S-Bahnen künftig unterirdisch verlaufen, ist das Modell aufgeschnitten worden. (Foto: Renate Schmidt)

Dann legte Stefan Carsten los, promovierter Zukunftsforscher und Stadtgeograf aus Berlin. Er wolle zunächst alle Zuhörerinnen begrüßen. Ausdrücklich, denn "wir leben in männlich geprägten Städten." Dies müsse und dies werde sich ändern. Immer mehr Frauen seien Architektinnen, Stadt- und Mobilitätsplanerinnen und sie setzten andere Schwerpunkte. Noch immer seien es mehrheitlich Frauen, die die Sorgearbeit bewältigten - wer Kinder, Haushalt und Beruf vereinbaren will, der müsse auf kurze Wege achten, Frauen hätten "ein viel komplexeres Wegesystem" zu absolvieren.

Nächste Station: China, genauer Xongan, eine neugebaute Stadt für über 200.000 Einwohner. Ohne Autoverkehr, so Carsten. Zunächst sei der Hauptbahnhof gestanden, dann die Stadt. Weiter ging es in einen Stadtteil von Brüssel, wo aus einem Parkplatz für 60 Fahrzeuge ein autofreier "Spiel- und Kommunikationsraum" und auch ein Arbeitsraum geworden sei. Der Einzelhandel dort habe davon profitiert. "Fuß- und Fahrradwege und ÖPNV schaffen Aufenthaltsqualität und steigern den Umsatz der Läden", so Carsten. Weitere Stationen waren Bauprojekte in Schweden und Holland.

Auch in Erding spielt Carsharing eine immer größere Rolle

Früher habe es fünf mögliche Optionen für Mobilität gegeben, "heute gibt es 30", informierte Carsten. Scooter, E-Bike, verschiedene Rufbussysteme, bis hin zu Car-Sharing-Angeboten, die immer mehr an Bedeutung gewännen. Das konnte Zuhörer Tobias List, Vorsitzender des Vereins Carsharing Erding, bestätigen: Auch in Erding spiele diese Form der Mobilität eine immer größere Rolle. Erst kürzlich hat der Verein das fünfte Fahrzeug in Betrieb genommen. Um 40 Prozent habe sich die Zahl der Mitglieder seit dem vergangenen Jahr erhöht. 138 sind es jetzt. "Wir nehmen gerne neue auf", erklärte List unter Applaus.

"Sagen Sie Ihrem Tankstellenpächter auf Wiedersehen", die Zukunft gehöre den Mobility Hubs, erklärte der Berliner Zukunftsforscher. Hubs verbinden Individualverkehr mit ÖPNV oder Carsharing-Angeboten. Sie können aber auch zum Aufladen von E-Bikes genutzt werden, zum Abholen von Paketen, man kann dort am PC arbeiten oder einen Kaffee trinken. Gewerbegebiete, die sich heute um riesige Parkplätze herum gruppierten, seien künftig nicht mehr zeitgemäß. "Auch Erding wird sich dramatisch verändern und anpassen müssen".

Manche aus der Zuhörerschaft fühlen sich an Plattenbauten vergangener Zeiten erinnert

Das Zauberwort heißt laut Carsten: Autonomes Fahren. Damit könnten 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche Haltestellen angefahren werden. Das könnte auch für den ländlichen Raum eine große Chance sein.

Manchem der Zuhörer wurde es angesichts der rasanten Fahrt doch ein wenig schwindelig. Die vorgestellten Gebäude erinnerten "an 70er-Jahre-Plattenbau", sagte ein Zuhörer. "Ist denn das Eigenheim tot?" Irgendwie schon. Angesichts des Klimawandels sind "Eigenheime unökologisch", so Carsten. "Wir müssen in die Höhe." Professor Hähnig betonte, eine "Trabantenstadt" werde am Fliegerhorst nicht entstehen. Die alte Parklandschaft werde integriert, dies gelte auch für einige Bestandsbauten. Im Durchschnitt werden die Gebäudevolumen viergeschossig geplant.

Der neue Bahnhof wird Schnittstelle zwischen dem neuen Stadtteil und dem "alten" Erding sein

Die Entwicklung werde "Etappe für Etappe" erfolgen, so der Berliner Zukunftsforscher. Eine erste Etappe ist der neue Erdinger Bahnhof, der im Rahmen des Erdinger S-Bahn-Ringschlusses gebaut wird und der als Schnittstelle zwischen dem neuen Stadtteil und dem "alten Erding" dient. Nach aktuellem Zeitplan der Bahn soll er 2029 fertig sein. Christian Famira-Parcsetich, Leiter der Stadtentwicklung und Moderator des Abends, lud alle Besucherinnen und Besucher ein, sich das 3-D-Modell des künftigen Tunnelbahnhofs anzusehen. Es ist im ersten Stock des Museums Erding zu besichtigen.

Der nächste Vortrag beschäftigt sich am Mittwoch, 14. Dezember, mit dem Thema "Bauen als Kreislauf - Aus Alt wird Neu". Rednerinnen sind ab 18.30 Uhr Kathrin Fändrich, Leiterin Hochbau am Staatlichen Bauamt Augsburg, und Professorin Mikala Holme-Samsoe vom Lehrstuhl Entwerfen und Gestalten an der Hochschule Augsburg.

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