Süddeutsche Zeitung

Familiennachzug:Wiedersehen nach drei Jahren und fünf Monaten

Höchstens ein Jahr werde er von der Familie getrennt sein, dachte der aus Syrien geflohene Maher A. Er lebt als anerkannter Flüchtling im Landkreis. Bis er seine Frau und die drei Söhne nachholen konnte, verging jedoch viel Zeit

Von Regina Bluhme

Die Geschichte, die Maher A. zu erzählen hat, beginnt im Oktober 2014 mit seiner Flucht aus Syrien. Die Geschichte hat einen schrecklichen Anfang und keinen einfachen Mittelteil, doch sie findet im Landkreis Erding ein gutes Ende. Und sie geht so: Der Familienvater verließ 2014 seine vom Krieg erschütterte Heimatstadt Damaskus und gelangte auf einer lebensgefährlichen Reise übers Mittelmeer nach Deutschland, das ihm Asyl gewährte. Seine Frau und die Kinder sollten ein Jahr später nachkommen, so war es geplant. Doch es dauerte drei Jahre und fünf Monate, bis er heuer am 16. April seine Frau und die drei Söhne in die Arme schließen konnte, im vereinfachten Familiennachzug, wie das offizielle Verfahren heißt. Jetzt lebt der 47-Jährige mit Frau und den drei Söhnen im Landkreis Erding und er hat wieder einen Plan: Deutsch lernen und dann einen guten Job finden. Sollte es mit seinem alten Beruf Englischlehrer nicht klappten, will er Touristenführer werden und ausländischen Gästen die neue Heimat zeigen.

Das Treffen mit Familie von Maher A. (der Name wurde von der Redaktion geändert) findet an einem heißen Junitag im Erdinger Büro von In Via München statt. Der Verein ist ein katholischer Verband für Mädchen und Frauensozialarbeit. Der angegliederte Fachbereich Migration berät und unterstützt neu zugewanderte Menschen aus anderen Ländern und Kontinenten. Ganz nah bei Maher A. sitzt seine Frau, links neben ihr die älteren Söhne, 18 und 14 Jahre alt. Rechts vom Vater schläft der elfjährige Sohn in einem Sessel. Maher A. spricht schon gut Deutsch, doch als er von der Flucht erzählen soll, wechselt er lieber ins Englische. Manchmal muss er sich räuspern, eine Pause machen, wenn die Erinnerungen zu heftig werden. Dann weist ihn der älteste Sohn auf die eine oder andere Begebenheit auf der Flucht hin. Die Familie kennt die Geschichte des Vaters. Er hat sie oft erzählt.

Es war sehr gefährlich in Syrien, sagt Maher A. "Ich wollte es zunächst alleine schaffen", für die Finanzierung der Flucht war nicht genügend Geld da und der Weg übers Meer wäre zu gefährlich für Frau und Kinder gewesen. Der Plan war also, dass der Vater allein loszieht und dann die Familie per Flugzeug nachkommt. "Wir dachten, spätestens nach einem Jahr sind sie bei mir."

Von Syrien ging es mit dem Flugzeug zunächst in den Sudan, von dort mit einem Auto nach Libyen. "Die Fahrt war schrecklich", der Fahrer habe unter Alkohol und Drogen gestanden und dann hatte sich der Wagen überschlagen, so erzählt es der 47-Jährige. Bei dem Unfall wurden Insassen verletzt, auch Frauen und Kinder. "Und du hast deine Brille verloren", erinnert ihn der 18-Jährige.

Von Libyen aus ging es übers Mittelmeer. Das Boot war aus Holz und für vielleicht 50 Leute ausgelegt, erklärt der Vater. "Wir waren sicher 170 bis 200 Menschen an Bord." Immer wieder habe der Motor gestreikt. "Dann kam ein Sturm", erinnert sich Maher A. Schließlich trieb das Schiff alleine in völliger Dunkelheit und unter meterhohen Wellen auf dem Meer. "Wir hatten furchtbar Angst", sagt Maher A. Bis ein Rettungsschiff der italienischen Marine sie aufgriff. In Italien hatte er erstmals Gelegenheit, sich bei seiner Frau zu melden. "Ich bin in Sicherheit", das waren seine ersten Worte am Telefon. Und was hat seine Frau gesagt? "Sie hat nur geweint."

Für Maher A. endete die Flucht im Landkreis Erding. In der Kreisstadt war er zunächst in der Turnhalle der Berufsschule untergebracht. Es war keine leichte Zeit mit großer Sorge um die Familie in Syrien und einer ungewissen Zukunft in Deutschland. Vier Monate verbrachte er im Kirchenasyl in der evangelischen Erlöserkirche in Erding. Dann war es soweit: 2016 erhielt er die auf zunächst drei Jahre befristete Anerkennung als Flüchtling. Sofort habe er einen Antrag auf den sogenannten vereinfachten Familiennachzug gestellt. Unterstützung erhält er von Natalie Nachtrab. Die Sozialpädagogin ist in Erding im Bereich Migrationsberatung tätig. Auch jetzt wird Familie A. von Nachtrab und ihrer Kollegin Julia Detterbeck vom Bereich Jugendmigrationsdienst betreut.

Die Möglichkeit des vereinfachten Familiennachzugs steht derzeit nur anerkannten Flüchtlingen zu. Für die subsidiär Schutzberechtigten, die nicht den Flüchtlingsstatus erhalten haben, denen aber "ein ernsthafter Schaden" im Heimatland droht, ist der Familiennachzug seit März 2016 ausgesetzt. Ab August sollen auch sie Familie nachholen können, allerdings sind die Zahlen auf insgesamt tausend Menschen pro Monat beschränkt. Welche Kriterien für den Nachzug erfüllt werden müssen - das alles ist noch unklar, sagt Nachtrab.

Die Frau von Maher A. hat eine schwierige Zeit hinter sich: "Allein mit den Kindern in Damaskus, es war schwer: die Verantwortung, kein Geld, oft kein Strom", erzählt sie. Bevor es nach Deutschland gehen konnte, wurde es noch mal richtig stressig. Eine deutsche Botschaft gibt es nicht mehr in Syrien, also Termin ausmachen in der deutschen Botschaft in Beirut für die Visa, dann die Fahrt dorthin organisieren, alle notwendigen Papiere zusammenstellen und dann - monatelang Warten auf die Visa. Und schließlich das Geld für die Flugtickets organisieren. Mithilfe von In Via beantragte Maher A. einen Zuschuss über einen speziellen Fonds der Erzdiözese München-Freising ("Fördermittel für Flüchtlinge). "Ohne dieses Geld hätte ich niemals die Reise meiner Frau und der Kinder bezahlen können", betont Maher A.

Am 16. April 2018 war es dann soweit: Die Familie war wieder zusammen. Oder fast. Die 22-jährige Tochter, die in Damaskus Medizin studiert, war zu alt für das Nachzugsverfahren, das nur Kinder bis 18 Jahre berücksichtigt. "Wir hoffen, dass sie in zwei Jahren nach Abschluss des Studiums zu uns kommen kann", sagt Maher.

Heute lebt er mit Frau und den drei Söhnen in einer Gemeinde im Landkreis Erding. Der 18-Jährige wird ab September in eine Berufsintegrationsklasse gehen, seine jüngeren Brüder gehen bereits begeistert in die Schule. "Ich habe schon Freunde gefunden", erzählt der 14-Jährige. Fußball findet er super und einige deutsche Wörter kann er auch schon: "Wie geht's ", "Wie heißen Sie", "Tisch" und "Ich bin vierzehn".

"Ich möchte zum Schluss noch etwas sagen", erklärt Maher A. Er muss sich jetzt sehr lange räuspern. "Ich kann nicht vergessen, was die Menschen hier für mich und auch für meine Familie getan haben", sagt er: "Ich möchte mich bedanken und sagen, dass ich einfach nur glücklich bin, hier zu sein." Der Vater hat genug erzählt, findet der 14-Jährige und drängt an diesem Nachmittag im Juni zum Aufbruch. Er will nicht das WM-Spiel von Deutschland verpassen: Jetzt aber los. Es geht zum Public Viewing in Erding. Die ganze Familie kommt mit.

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Quelle:
SZ vom 07.07.2018
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