Süddeutsche Zeitung

Erdinger Institution:Emanuela Schwankl schließt

Der Stoffladen an der Langen Zeile macht dicht. Damit hat Erding ein einzigartiges Geschäft weniger

Von Regina Bluhme, Erding

Die Kundin, die das Stoffgeschäft an der Langen Zeile 29 betritt, weiß genau, was sie will. Einen blauen Samt. Ladenchefin Emanuela Schwankl kann sie krankheitsbedingt nicht bedienen, doch der freundliche Verkäufer fischt aus den unzähligen Stoffballen sofort den richtigen heraus. "Jetzt ist dann Schluss", sagt er und die Kundin schaut ganz erschrocken: "Wirklich? Das ist aber schade." Das Schild im Schaufenster hat sie glatt übersehen. "50 Prozent auf alles" steht da. Der Stoffladen, Erdings "Restl-Kath", schließt.

Im Laden von Emanuela Schwankl gibt es keine moderne Computerkasse und keine kunstvoll ausgeleuchtete Auslagen. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Hinter dem mit lila gemusterten Stoff verkleidetem Verkaufstresen fordert ein altes Plakat "Mehr Farbe", daneben stehen windschiefe Holzregale, alte Neonröhren leuchten an der Decke. Die Preisschilder an den bunten Stoffballen sind mit Hand geschrieben. Im Nebenraum mit wunderschönen und wahrscheinlich sehr alten Bodenfliesen ist eine Wand mit einer Hügellandschaft am Meer bemalt, verblasst und zum Teil abgeblättert, aber immer noch beeindruckend.

Emanuela Schwankls Mieter hat den Räumungsverkauf übernommen. Er will nicht mit Namen in der Zeitung stehen, aber mit der Kundschaft kommt er gleich ins Gespräch. Die "Restl-Kath" sei in Erding "eine Institution", sagt die Kundin, während er für sie den blauen Samt abschneidet. Er nickt, an diesem Donnerstag vor Weihnachten läuft das Geschäft recht schleppend. Mal sehen, wie lange die "Restl-Kath" noch offen hat. Endgültig geschlossen werden soll erst, wenn alle Stoffe verkauft worden sind.

Christoph Krönauer vom Café Krönauer gegenüber kennt das Geschäft und seine Besitzerin seit seiner Kindheit. Er kann sich erinnern, dass er als Bub die Ladenräume immer ein bisschen unheimlich gefunden hat, "so schummrig und düster, ein bisschen wie in ein Hexenland", sei es ihm damals vorgekommen. Herrmann Kronseder, ein entfernter Verwandter von Emanuela Schwankl, weiß, dass die heute 83-Jährige den Laden vor circa 20 Jahren von der Mutter Katharina übernommen hat. Ein Blick in die Zeitungsarchive zeigt, dass 2009 der Laden sogar als Filmkulisse diente. Ein ZDF-Team drehte dort ein paar Szenen für eine Komödie, dazu wurden die Ladenräume in ein Café verwandelt. Die heute 83-Jährige hat Architektur studiert, in Berlin gearbeitet und in Venedig eine Galerie geführt, weiß Hermann Kronseder. Sie ist Kulturpreisträgerin und wird in einem SZ-Artikel vom 18. Juli 1997e als "streitbare Kunstbesessene" bezeichnet, "die das Flair großstädtischer Künstler nach Erding bringen wollte". Auf ihre Einladung hin besuchte zum Beispiel der Dichter H.C. Artmann im Dezember 2000 die bayerische Herzogstadt.

Im hinteren Teil des Geschäfts lebte lange Jahre einer weitere außergewöhnlichen Erdinger Persönlichkeit: Hermann Herzberg, der "Radl-Hermann". Er hat im Laufe der Jahre wohl unzählige Räder der Erdinger repariert. 2017 ist er verstorben.

Das Haus selbst mit der vierzeiligen Inschrift und der imposanten Christusfigur am Erker prägt das Straßenbild der Erdinger Altstadt - und gilt als eines der ältesten der Stadt. Wie aus Unterlagen des Erdinger Stadtarchivs hervorgeht, stammt es aus den Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs. In dem Anwesen war zunächst eine Schankwirtschaf, dann ein Loderer, ein Schreiner, ein Kupferschmied. Im 19. Jahrhundert erwarb der Tuchmacher Adam Müller das Haus. Dessen Sohn Rupert Müller heiratete 1911 Kathi Entleutner aus Freising. Die Ehe wurde vier Jahre später geschieden, laut Akten "wegen gegenseitiger Abneigung". Emanuela hat das Haus schließlich von ihrer Mutter, einer gebürtigen Kronseder, übernommen. Wie sich Hermann Kronseder erinnert, wäre das Haus bei Arbeiten für die Abwasserversorgung einmal fast eingestürzt. Seither sorgen seitliche Stahlträger für Halt. Jetzt ist das Haus bereits seit längerem verkauft. Sie darf aber weiter dahin wohnen. Vielleicht taucht ja irgendwann noch einmal eine weitere Besonderheit auf: Stadtarchivar Markus Hiermer würde sich freuen, wenn sich die Siegesgöttin wiederfände, die nach seinen Recherchen ab circa 1870 an dem Haus prangte. Sie muss eine beeindruckende Erscheinung gewesen sein, mit Flügeln und gezogenem Schwert.

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Quelle:
SZ vom 07.01.2019
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