Erding:"Wir sitzen alle in einem Boot"

Erding: Dorfens Bürgermeister Heinz Grundner, Erdings OB Max Gotz, Sparkassen-Vorstand Joachim Sommer und der Ehrengast Horst Köhler.

Dorfens Bürgermeister Heinz Grundner, Erdings OB Max Gotz, Sparkassen-Vorstand Joachim Sommer und der Ehrengast Horst Köhler.

(Foto: Peter Bauersachs)

Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler sprach auf Einladung der Sparkasse in der Erdinger Schrannenhalle. Das "Entscheidungsjahr 2015" und seine Folgen ist sein Thema - er gibt den Erdingern viel zum Nachdenken mit

Von Mathias Weber, Erding

Horst Köhler lässt sich seine Mappe mit dem Redemanuskript reichen, steigt auf das Podest, setzt seine tief sitzende Lesebrille auf und lächelt gütig. Nein, auch wenn es den Eindruck macht, der mittlerweile 72-Jährige würde seinen Enkeln jetzt ein Märchen erzählen - ganz im Gegenteil. Köhler wird in den kommenden eineinhalb Stunden eine Rede halten, die es in sich hat, und danach wird das Erdinger Publikum viel zum Nachdenken in die kalte Novembernacht mit hinausnehmen.

Horst Köhler kam am Mittwoch auf Einladung der Sparkasse Erding-Dorfen in die Große Kreisstadt. In regelmäßigen Abständen schafft es die Sparkasse, Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft in den Schrannensaal zu locken - der ehemalige Außenminister Hans Dietrich Genscher war schon da, genauso wie der Nachrichtenmoderator Claus Kleber. Nun also Horst Köhler, der tatsächlich Verbindungen zur Sparkasse mitbringt: In den neunziger Jahren leitete er als Präsident den Deutschen Sparkassen- und Giroverband. Aber er war nicht nur das: Er ist Ökonom, Doktor, Professor, ehemaliger Staatssekretär, ehemaliger Geschäftsführer des Internationalen Währungsfonds, und von 2004 bis 2010 war Köhler der neunte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Ein intelligenter Mann, mit einer riesigen Lebenserfahrung. Die hat man aus jedem Satz seines Vortrages herausgehört: "Entscheidungsjahr 2015 - In welcher Welt wollen wir leben?", fragte Köhler. Doch weniger ging es dem ehemaligen Bundespräsidenten um die tatsächlichen, bedrückenden Ereignisse dieses turbulenten Jahres - von den Terroranschlägen in aller Welt bis zur Griechenlandkrise, dem Syrien-Krieg und der Ukraine; vielmehr wollte Köhler den Erdingern näher bringen, wo diese Krisen ihren Ursprung haben und vor allem wie wir - die Gesellschaft und die Politik - aus ihnen lernen können.

Warum sich die Staatengemeinschaft in einer solchen Misere befindet, das führt Köhler auf eine ganz einfache Formel zurück: "Wir haben die Fähigkeit verloren, über den Moment hinaus zu denken", sagte er. Beispiele gibt es viele: Die Flüchtlingskrise etwa sei auch dadurch verschuldet, dass die Flüchtlingscamps im Nahen Osten kaum von den westlichen Ländern finanziell unterstützt worden seien. Oder der Abgasskandal: Um hundert Euro einzusparen, habe man die Software manipuliert. Jetzt aber wird es für VW richtig teuer. Köhler warnt daher von einer "Diktatur der Gegenwart" und fordert eine "Demokratie der Weitsichtigkeit". Der weit gereiste Köhler hat genug von einer nationalen Politik. Globale Probleme - Finanzkrisen, Kriege, Überbevölkerung, Klimawandel - könnten nicht einzelne Staaten lösen; er bringt es ganz einfach auf den Punkt: "Wir sitzen alle in einem Boot."

Und nun? Wie geht es weiter? Köhler bleibt realistisch, den Schalter von heute auf morgen umzulegen, massive Veränderungen in der Weltwirtschaft und -politik herbeizuführen, das weiß auch er, das geht nicht. Aber mit der Zeit kann das geschehen. Beeindruckt ist er von der Entscheidung der Vereinten Nationen, die kürzlich globale Ziele bis 2030 beschlossen haben - etwa die Armut auf dem Planeten bis dahin komplett zu beenden. Aber auch wir können etwas tun: Köhler appellierte an sein Publikum: "Überprüfen Sie ihre Gewohnheiten", redete er den Besuchern im Sparkassensaal ins Gewissen. Müssen wir zum Beispiel wirklich jeden Tag Fleisch essen?

Unbequeme Wahrheiten hatte Köhler mit nach Erding gebracht, und es war am Mittwoch spürbar, dass er das Publikum zum Nachdenken angeregt hat. Gerade dann, als es persönlich wurde: Köhler wollte sich einen Seitenhieb auf die aktuelle Flüchtlingsdebatte nicht verkneifen. "Ich bin Flüchtlingskind", sagte er. Die Eltern aus Moldawien, von den Nazis nach Polen umgesiedelt, Flucht vor der Roten Armee nach Sachsen, später weiter nach Westdeutschland. Köhler sagte, er kennt den "Aufbruch ins Ungewisse", die "Misstrauischen Blicke der Alteingesessenen" - "Erst mit 14 Jahren ging mir das Wort Heimat über die Lippen." Und wegen diesen Erfahrungen weigere er sich heute, "Menschen in Bedrängnis pauschal als Bedrohung zu sehen." Er freut sich über die vielen Freiwilligen im Land. Aber Sorgen treiben ihn um: Der Hass, die Kultur des Misstrauens, der raue Ton von Politikern, die den kurzfristigen politischen Vorteil suchen.

Da dürften die Politiker im Raum genau zugehört haben, Erdings Oberbürgermeister Max Gotz und Dorfens Bürgermeister Heinz Grundner (beide CSU) waren da. Landrat Martin Bayerstorfer (CSU) aber war am Mittwoch nicht in der Schrannenhalle - er hat die Rede nicht gehört.

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