Erding:Schritt für Schritt

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In der Werkstätte für behinderte Menschen wird die Arbeit so zerlegt, dass auch der Schwächste helfen kann. Neue Aufträge werden gerne angenommen.

Benedikt Warmbrunn

ErdingDer Kopfgurt liegt noch da, als Erinnerung an diesen außergewöhnlichen Mitarbeiter, aber auch als Zeichen für die Vielfältigkeit des Betriebes. Ein ehemaliger Mitarbeiter der Werkstätte für behinderte Menschen (WfbM) in Erding konnte nur seinen Kopf bewegen, für den normalen Arbeitsprozess war er nicht mehr nützlich. Aber er wollte arbeiten, wollte seinen Kopf bewegen: Er wollte nützlich sein. Also bastelten sie den Kopfgurt mit Metallfinger an der Stirn, so konnte der Mitarbeiter durch Drehen und Drücken des Kopfes helfen. "Wir passen die Arbeit an unsere Mitarbeiter an, zerlegen sie so, dass sie auch für den Schwächsten praktikabel ist", sagt Bernd Schreiber, der Betriebsleiter. 150 Mitarbeiter hat die Werkstätte in Erding, hinzu kommen 30 Betreuer. In diesen Tagen fragen sie sich in der Werkstätte, ob sie weiter so arbeiten können wie bisher: In der Cardo Door ist ein Großkunde verloren gegangen. 65 Prozent der Lagerkapazität werden frei, zudem haben die Aufträge der Cardo Door zuletzt ein Viertel des Rohgewinns ausgemacht - und dieser wird ausschließlich unter den Mitarbeitern verteilt. Schreiber ist zurzeit vor allem damit beschäftigt, diese Lücke zu füllen, indem er um neue Kunden wirbt oder versucht, die bisherigen Kunden dazu zu bewegen, ihre Aufträge auszuweiten. "Es soll einen nahtlosen Übergang geben", sagt Schreiber. Er weiß aber auch, dass das schwierig wird. An diesem Vormittag jedenfalls sind alle Mitarbeiter beschäftigt; in der Metallbearbeitung gibt es sogar mehr Arbeit als Mitarbeiter, da viele gerade im Urlaub sind oder ihren Resturlaub abbauen. An den Nähmaschinen verschließen sie Federkissen; für eine Weißbierbrauerei werden Werbekartons neu beklebt, da sich der Alkoholgehalt geändert hat; andere Mitarbeiter fräsen, sägen, bohren, sie stehen an der Drehbank, in der Stanzerei oder in der Schweißerei. An einem Tisch werden Pinsel an einen Deckel gelötet, 150 000 dieser Pinsel werden zurzeit jährlich hergestellt. In einem anderen Raum werden Kopfhörer auseinander gebaut, mit einem unbenutzten Ohrpolster versehen, in eine neue Tüte gelegt, verschweißt; 30 000 Kopfhörer werden pro Woche neu verpackt. Schreiber nennt diese Zahlen gerne, denn sie zeigen, dass die Werkstätte nicht nur eine Beschäftigungstherapie ist; sie zeigen, dass die Werkstätte auch produktiv ist. Damit die Arbeitsprozesse schnell und zuverlässig erledigt werden können, übernimmt jeder Mitarbeiter nur einen Schritt, auch in der WfbM herrscht kleinteilige Spezialisierung. Manchmal gibt es dabei kleine Gedächtnisstützen: Auf dem Arbeitsplatz der Mitarbeiter, die eine Produktpalette zusammenstellen sollen, klebt ein Foto mit allen Teilen, die sie in eine Tüte packen müssen. Erst wenn sie das Foto komplett nachgebildet haben, suchen sie die Teile für das nächste Set. "Eigentlich unterscheiden wir uns aber nicht so sehr von anderen Industriebetrieben", sagt Schreiber. Einer der wesentlichen Unterschiede in der Produktion: Es gibt keine Schichtarbeit. Die Arbeitszeit geht von 7.40 bis 16 Uhr. Schließlich führt Schreiber noch in den Keller. Hier arbeiten zum einen auf der Förderstelle die pflegeintensiven Mitarbeiter, die einer stärkeren Begleitung bedürfen. Zum anderen gibt es hier ein besonderes Programm: die Individuelle Beschäftigungs- und Arbeitsgruppe (IBA). Mitarbeiter, die kurz vor dem Erreichen des Rentenalters stehen oder denen der normale Arbeitsaufwand zu anstrengend wird, sind zwei Jahre lang in der sogenannten Ausgliederungsphase. Die Mitglieder der IBA arbeiten nur noch vormittags, nachmittags werden sie auf das Dasein als Rentner vorbereitet: Sie werden mit den Aufgaben eines Alltags ohne Arbeit vertraut gemacht, lernen zu kochen oder einzukaufen. Außerdem werden ihnen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung präsentiert, sie gehen spazieren oder üben, mit der Konsole für Videospiele umzugehen. "Wenn uns jemand verlässt, soll er in kein Loch fallen", sagt Schreiber. Dann geht der Betriebsleiter in sein Büro: neue Aufträge anwerben.

In der Werkstätte für Behinderte in Erding werden  jährlich 150 000 Pinsel gelötet, (Foto: Renate Schmidt)
© SZ vom 08.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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