Süddeutsche Zeitung

Erding:"Nicht quatschen, machen!"

Früher machten Sportler Klimmzüge, Kniebeugen, Liegestütze. Heute nennt man das "Freeletics". Das Fitnessprogramm kann man auch im Erdinger Stadtpark ausprobieren - mit viel Schweiß und noch mehr Pathos

Von Gianna Nievel

Kentauros ist am schlimmsten. Zwanzig Meter harkt die Frau im Ausfallschritt durch den Erdinger Stadtpark, bei jedem Schritt geht sie soweit in die Knie, dass die den Boden berühren. Sie bleibt stehen, keucht. Zwanzig Meter zurück, die Muskeln beißen. Beim Hochkommen stützt sie sich mit der Hand auf dem Oberschenkel ab. Noch drei Schritte, dann ist die 43-Jährige wieder an der roten Linie. Noch zwei, noch einer. Sie tippt aufs Handy. Das Handy sagt: "Two fourty". Die Frau sagt: "Verdammt, zu langsam." Sie springt zehn mal aus der Hocke in die Luft. Dann wieder die Ausfallschritte, wieder die Sprünge. Die Uhr zeigt nun 21 Minuten und 35 Sekunden. Die Frau trinkt Wasser und spuckt es aus. Schweiß läuft von der Stirn über die Schläfe.

Das, was Suzana Fodermeyer da macht, nennt sich Freeletics. Es ist ein Fitnessprogramm, bei dem man mit dem eigenen Körpergewicht arbeitet. Oder besser gesagt: dagegen. Es geht darum, eine bestimmte Abfolge an Übungen in möglichst kurzer Zeit zu machen. Das Ziel ist Verausgabung. Fodermeyer hat eine Gruppe in Erding gegründet - bislang trainiert sie aber meist allein.

Fodermeyer, pinkes Top, schwarze Hose, kämpft sich seit November durch den Stadtpark. Die Vertriebsassistentin trainiert drei bis vier Mal pro Woche; je nachdem, was ihr der digitale Coach vorgibt. In der Facebook-Gruppe "Freeletics Erding" gibt sie die Uhrzeiten bekannt, für andere Teilnehmer ist sie dankbar. In der Gruppe postet sie auch Schlachtrufe. "Winners train, losers complain" ist einer. "Stop crying, start doing" ein anderer. Freeletics, das ist eine Mischung aus Schweiß und Pathos.

An diesem Tag ist ein junger Mann gekommen, er ist neu dabei und will erst einmal erzählen. Dass er sich einen strafferen Bauch wünscht und sein Onkel mit Freeletics erfolgreich Fett in Muskelmasse umgewandelt hat. Dass er regelmäßig Fußball spielt und wo er wohnt. "Nicht quatschen, machen", sagt Fodermeyer. Nächste Liegestütze.

Die einzelnen Übungen heißen wie griechische Götter, es gibt Kentauros, das Mischwesen aus Pferd und Mensch. Dann Apollon, den Gott der Heilung. Ein anderes Workout ist benannt nach Hades, dem Herrn der Unterwelt. Die Übungen sind unterschiedlich anstrengend, mal geht es um Ausdauer, mal um Kraft. Neu sind die Inhalte nicht, mit Klimmzügen, Kniebeugen und Liegestützsprüngen hielten sich schon vor Jahrzehnten Soldaten fit. Die Übungen heißen jetzt nur anders.

Etwa fünf Millionen Menschen haben sich weltweit registriert, der Freeletics Handy-Coach kostet knapp 80 Euro im Jahr. Braucht man das wirklich? "Es ist das Team-Gefühl. Auch wenn ich allein durch den Erdinger Stadtpark hechte, bin ich über die App vernetzt. Es spornt an, zu sehen, was die anderen machen", sagt Fodermeyer. Als sie im vergangenen Jahr eine Sehnenscheidenentzündung kurierte, hätten ihre Freeletics-Freunde sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt. Vergangene Woche hat sie ein Foto vom Rasen gepostet, der nach dem zwanzigminütigen Workout umgepflügt war. Andere Sportler aus dem ganzen Bundesgebiet haben sie gelobt. "Natürlich kann ich Liegestützen und Hampelmänner auch ohne die App machen", sagt sie. Aber sie vertraue eben auch darauf, dass ihr der digitale Coach ein effektives Training zusammenstellt: Abwechslungsreiche Übungen, ausreichend Pausen.

Sport macht Fodermeyer schon seit Jahren, joggen, schwimmen, radeln. Das Übliche. Weil sie das irgendwann langweilte, hat sie nach Alternativen gesucht - und Freeletics gefunden. "Ich fand' gut, dass man nur etwa zwei Stunden pro Woche trainiert und relativ schnell merkt, wie sich der Körper verändert", sagt sie. "Man ist einfach stolz auf sich, wenn man eines der Workouts geschafft hat." Freeletics, das ist der Gang über die eigenen Grenzen und der Stolz darüber.

Das Internet veranschaulicht diesen Stolz. Auf Fotos zeigen Menschen ihren nackten Oberkörper, vor und nach dem Training. In Videos klagen sie erst, wie unwohl sie sich fühlen. Über Tage und Wochen hinweg filmen sich die Männer und Frauen dann beim Sport, schwitzend, das Gesicht verzerrt. Sie dokumentieren ihr Scheitern und ihren Fortschritt, am Ende haben sie einen Waschbrettbauch. Auch diese Video werden von anderen kommentiert.

Mittlerweile hat sich Fodermeyer von ihrem Workout erholt. Ruhig geht ihr Atem. Während sie Kentauros beendet hat, springt der junge Mann neben ihr noch immer unermüdlich aus der Hocke in die Luft. Fodermeyer nimmt noch einen Schluck Wasser. Dann geht sie neben ihm in die Knie und springt. "Komm, die paar Sprünge packen wir auch noch", sagt sie. "Wäre doch gelacht."

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Quelle:
SZ vom 05.06.2015
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