Süddeutsche Zeitung

Erding:Mit Buchenblättern auf Zeitreise

Bei ihren Streifzügen durch den Wald hat Försterin Kirsten Joas stets eine kleine Kamera dabei. Ihre Fotos vom Werden und Vergehen der Natur zeigen Witz sowie Tiefgang und sind vor allem bei Pflegeeinrichtungen sehr beliebt

Von Franziska Langhammer

Angefangen hat alles, als ihr Vater im Pflegeheim im schwäbischen Bopfingen lag, einer Einrichtung speziell für Wachkomapatienten. "Ich hab nach Möglichkeiten gesucht, Bilder über seinem Bett aufzuhängen", sagt Kirsten Joas. Mit ihrem Vater, einem ehemaligen Polizisten, war sie als Kind oft im Wald gewesen, der Familie gehörte ein Stück Forst. Und so tapezierte sie nach und nach sein ganzes Zimmer mit Naturaufnahmen, die sie selbst gemacht hatte. Vor allem mit Bildern von hohen Bäumen, die sie mit Blick von unten aufgenommen hatte. Als Betrachter bekommt man dabei schnell den Eindruck, selbst an einem großen Baum zu stehen und in sein dichtes Blätterwerk nach oben zu schauen. "Ich weiß nicht, ob mein Vater was mitgekriegt hat davon", sagt Joas. "Aber zumindest für die Pflegekräfte ist es schön gewesen, sie sind immer gern in das Zimmer gekommen."

Kirsten Joas' Vater starb 2007. Einige Zeit später kam der Pflegedienstleiter der Einrichtung auf die Tochter zu und fragte, ob sie nicht Interesse an einer Ausstellung habe. Seitdem hat Joas in diversen Alten- und Pflegeheimen ausgestellt, aber auch im Erlebniszentrum in Grünwald oder im Rathaus Ebersberg. Momentan hängen die Bilder der Moosacher Försterin im Pflegezentrum Sendling - und werden es wahrscheinlich noch länger tun: Das Zentrum hat alle Exemplare gekauft. "Die Fotos machen was mit den Menschen, dass es ihnen besser geht", sagt Kirsten Joas auf die Frage, wieso wohl besonders Pflegeeinrichtungen an ihren Bildern interessiert sind. Dann überlegt sie kurz und ergänzt, eher zu sich selbst: "Vielleicht, weil der Mensch doch eher in die Natur gehört als in ein weißes Krankenhaus."

Und tatsächlich fühlt es sich an wie ein ungewöhnlicher Waldspaziergang, wenn man Joas' Bilder betrachtet. Die studierte Försterin, die mit ihrer Familie direkt am Wald bei Moosach wohnt, hat einen Blick für Details und Bildkompositionen, die unmittelbar neugierig machen. So fängt sie etwa den Samenstand der Klematis ein - wild kletternde Waldreben, deren Samen sich der Pusteblume ähnlich in wattiges Gewölk verwandelt. Von Joas geknipst, schaut das Ganze aus wie eine Blume mit weichen Fangarmen - oder ein kleines verwirrtes Gespenst.

Ebenso natürlichen Charme beweist Joas Nahaufnahme von frisch-grünem Moos. Das Sporangium, also der Teil, in dem die Sporen heranreifen, streckt sich vorwitzig in den Vordergrund der Aufnahme, dunkle und helle Grüntöne verschwimmen ineinander und vermitteln einen dynamischen Eindruck: Hier geht noch einiges. Mit ihrem Bild von zwei ineinander verschlungenen Fliegenpilzen, deren saftig-gefährliches Rot die Waldexpertin in seiner vollen Pracht eingefangen hat, gewann Kirsten Joas 2019 den zweiten Preis bei einem Fotowettbewerb des Landschaftspflegeverbands Ebersberg.

Fotografiert hat Kirsten Joas eigentlich schon, seit sie denken kann. Viel habe sie dabei von ihrer Mutter mitbekommen, einer leidenschaftlichen Fotografin. Wäschekörbe voll mit Dias hätten sie zu Hause gehabt, erzählt Joas, vor allem von lächelnden Kindern vor Sehenswürdigkeiten. Das Meiste aber habe sie sich selbst beigebracht, sagt sie, "oder ich versuche zumindest immer wieder, mir da mehr beizubringen." Ihre Ausrüstung ist klein und handlich: Statt sich mit aufwendigem Equipment auszustatten, zieht Joas mit ihrer Digitalkamera los, einer Lumix mit Leica-Objektiv. Grund dafür ist auch, dass die Kamera einer Försterin auf deren Streifzügen durch die Natur so einiges aushalten muss. Eine hat Joas sogar schon mal im irischen Avonmore River versenkt.

Ihre Motive wählt Joas vor allem nach einem Kriterium aus: zufällig. Als Försterin ist sie sowieso viel im Wald unterwegs, und immer wieder begegnen ihr dabei Pflanzen oder Panoramen, die sie für abbildungswürdig hält. An ihrem Computer zu Hause klickt sie durch verschiedene Foto-galerien und zeigt Bilder aus den vergangenen Jahren. "Die Koinzidenz, wenn etwas zusammenfällt, das macht das Foto erst interessant", so Joas. Etwa bei der großformatigen Aufnahme einer gelb-blättrigen Buche. Erst der Fluchtpunkt, findet Joas, sorge für Spannung im Bild. Überhaupt - die Buche. Joas klickt weiter. Sie zeigt grüne, frisch entfaltete Blätter im Frühling: "Anhand von Buchenblättern könnte man eine ganze Zeitreise machen." Wenn die Försterin mit Schulklasse Führungen macht, dürfen diese im Herbst auch mal an den Zweigen rütteln - aber erst dann, wenn das Chlorophyll schon rausgezogen ist, und die Blätter nicht mehr grün sind, gibt der Baum seine Blätter her. Auch das fundierte Fachwissen von Joas fließt also in ihre Fotokunst mit ein.

Was der Wald für sie bedeutet? Kirsten Joas überlegt lange. Dann sagt sie: "Was die meisten Menschen im Moment abgeben, ist das Gefühl für Kreisläufe. Im Wald sieht man, dass alles immer in Bewegung ist, ein Vergehen, Werden und wieder Vergehen." Kein Zustand könne konserviert werden. "Alles ist im Fluss", sagt Joas, "das prägt mein Leben sehr." Die Fotografie, so möchte man hinzufügen, ist zumindest ein Mittel, um die besonders schönen Momente festzuhalten.

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SZ vom 19.05.2020
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