Süddeutsche Zeitung

Erding:Inklusion ändert das Lernen für alle

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Die Mittelschule Dorfen strebt als siebte Schule im Landkreis das "Profil Inklusion" an. Von der festen Einbindung von Sonderpädagogen profitieren nicht nur einzelne Schüler - die alten Sichtweisen auf Kinder ändern sich grundlegend

Von Florian Tempel, Erding

Von einem normalen Unterrichtsbetrieb sind die Schulen noch weit entfernt. Ein Teil der Schüler war zwar schon wieder im Präsenzunterricht - ein Begriff, den man vorher so gar nicht kannte und der sich erst als Gegenkonzept zum zuvor unbekannten Homeschooling erklärt. Die meisten Schüler saßen aber bislang immer noch auf sich selbst gestellt in ihren Kinderzimmern, warteten auf elektronisch übermittelte Direktiven oder eine Stunde Videokonferenz, bevor sie ihre Aufgaben abarbeiteten und mit dem Handy ein Foto ihres ausgefüllten Arbeitsblattes machten, um den Beweis ihrer Lernbemühungen zurückzusenden. Wie schön, dass die Pfingstferien begonnen haben.

Wenn derzeit darüber diskutiert wird, was man aus den coronabedingten Zuständen lernen könnte und wie sich Schule zukünftig entwickeln müsste, ist das beherrschende Schlagwort die Digitalisierung: Jedem Schüler gehört ein Laptop in die Hand gedrückt, damit er in seinem jugendlichen Homeoffice effizienter auf das Erreichen der Leistungsziele hinarbeiten kann. Der Einsatz elektronischer Kommunikationstechnologie wird als fortschrittliche Schulentwicklung verkauft.

Die Vereinzelung der Kinder und Jugendlichen in den vergangenen Wochen und Monaten könnte dabei den Blick auf etwas ganz Anderes lenken: Dass Inklusion von viel größerer Bedeutung für die Schule von morgen ist. Inklusion ändert nicht nur die Unterrichtsvermittlung für den Einzelnen, sondern sie ändert das Lernen für alle.

Schulen sind zwar nur ein Bereich, in dem Inklusion verwirklicht werden muss, aber sie sind von zentraler Bedeutung. Für Kindern mit einem erhöhten Förderbedarf gibt es derzeit ganz verschiedene Schulkonzepte. Grundlegend ist mittlerweile, dass an allen Grund- und Mittelschulen Lehrkräfte des Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD) im Einsatz sind. Sie sind im Unterricht dabei, in Kooperations- oder Partnerklassen, in denen Kindern mit und ohne erhöhten Förderbedarf sind, oder sie bieten "Alternative Schulische Angebote" an, in denen starre Klassenverbände aufgelöst werden. In Erding und Umgebung gehen Lehrkräfte der Katharina-Fischer-Schule als MSD-Lehrer an die Grund- und Mittelschulen. Im östlichen Landkreis ist das Förderzentrum Dorfen der Kooperationspartner.

Es macht Sinn, dass es Förderzentrum heißt. In Dorfen gehen aktuell etwa 130 Kinder direkt im Förderzentrum zur Schule. Fast genau so viele Kinder und Jugendliche, sagt Schulleiterin Gabi Schober, treffen jedoch in anderen Schulen und Kitas auf Lehrkräfte des Förderzentrums. Mehr als die Hälfte der 33 Dorfener Sonderpädagogen gehen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, regelmäßig raus an andere Schule.

In Dorfen hatte in dieser Woche der Haupt- und Finanzausschuss des Stadtrats mit dem Thema Inklusion zu tun. Auf der Tagesordnung stand der Antrag der Mittelschule, zu einer Schule mit "Profil Inklusion" zu werden. Das hört sich wegweisend an, ist es aber nur teilweise. Die Erklärungen des Kultusministeriums, was eine Schule mit Profil Inklusion ist, klingt lapidar: "Eine Schule mit dem Profil Inklusion setzt auf der Grundlage einer gemeinsamen Bildungs- und Erziehungskonzeption in Unterricht und Schulleben individuelle Förderung für alle Schülerinnen und Schüler um." Zum Organisatorischen erfährt man noch, dass die Sonderpädagogen, die bisher als MSD an der Schule mitarbeiteten, fortan fester ins Lehrerkollegium eingebunden werden.

Im Landkreis gibt es bislang sechs Schulen mit dem Profil Inklusion: Die Erdinger Grundschule Am Grünen Markt, die Grundschule Dorfen-Nord, die Mittelschulen in Taufkirchen und Wartenberg, die Berufsschule Erding, die Herzog-Tassilo-Realschule und das Gymnasium Dorfen. An Realschulen und Gymnasien sind die Inklusionsrealitäten andere als etwa in der Grundschule, in die ja grundsätzlich alle Kinder gehen. "Im Gymnasium ist es besonders schwierig, den Leistungsgedanken etwas wegzuschieben", sagt Schober. Dennoch: "Das Thema Inklusion hängt nicht vom Schulsystem ab" - es sei überall notwendig und richtig. Werden dann nicht zumindest die Förderzentren überflüssig? Sobald werde das noch nicht passieren, sagt Schober: "Das ist eine Zukunftsvision, die noch sehr weit weg ist." Aber wenn, dann wäre viel erreicht, schulische Inklusion wäre realisiert.

Als nächstes wird erst einmal die Mittelschule Dorfen das angestrebte Profil Inklusion bekommen. Das ist auch deshalb nur konsequent, da die Grundschule Dorfen-Nord, die sich im selben Gebäudekomplex befindet, schon Inklusionsschule ist. Rektor Gerhard Maintok ist davon begeistert. Die feste Einbindung einer sonderpädagogischer Lehrkräfte sei ein enormer Gewinn. "Die Einbringung des Fachwissens ins Kollegium" sei die entscheidende Veränderung. Seitdem Sonderpädagogen fest an seiner Grundschule integriert mitarbeiten, werde allen im Kollegium mehr und mehr deutlich, dass es kein Lernziel für die ganze Klasse geben kann. Der alte Ansatz taugt nichts, sagt Maintok. "Dass man das als Lehrer akzeptiert, ist nicht so leicht."

Schober freut das zu hören. Denn es zeigt ihr, wovon sie schon lange überzeugt ist. In der traditionellen Sichtweise "steht in der Schule der Lerninhalt im Mittelpunkt", sagt Schober, der mittels Lehrplan und Zielvorgaben von allen erreicht werden sollte. Für einen Sonderpädagogen stehe immer der Schüler im Mittelpunkt. Und funktionierende Inklusion entstehe deshalb, "wenn sich die Sichtweise auf die Kinder ändert", sagt Schober, "dass ist das Zentrale".

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SZ vom 30.05.2020
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