Süddeutsche Zeitung

Erding:Hand in Hand

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Nach fast sechs Jahren sind eine 26-jährige Mutter und ihr acht Jahre alter Sohn wieder vereint. Als anerkannte Geflüchtete nutzte sie die Möglichkeit des "erleichterten Familiennachzugs" - der ohne professionelle Hilfe, Unterstützer und Freunde eine Unmöglichkeit wäre

Von Florian Tempel, Erding

Viele Familien werden in diesem Jahr an Weihnachten nicht so zusammenkommen können wie sonst. Eltern und Kinder werden sich nur über Videoanrufe sprechen und sehen. Das ist ein bisschen traurig. Bei Jamila und Abdi war Skype jahrelang die einzige Möglichkeit in Kontakt zu blieben. In diesem November konnte die 26-Jährige ihren acht Jahre alten Sohn erstmals wieder seit Januar 2015 in die Arme schließen. Es war ein unwirklicher Augenblick, den sie kaum in Worte fassen kann. "Ich bin fast umgekippt", sagt Jamila, so groß war die Freude, ihr Kind wieder zu haben.

Jamila und Abdi heißen eigentlich anders. Wie so viele Geflüchtete möchte auch Jamila nicht, dass ihre richtigen Namen in der Zeitung stehen. Viele Frauen und Männer, die kein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland haben, scheuen die Öffentlichkeit. Selbst, wenn es um eine positive Geschichte geht - oder gerade deswegen? Die Angst der Geflüchteten vor ihrer Identifizierbarkeit gibt zu denken.

Jamila stammt aus Somalia. Für sie als Mädchen war dort nach acht Schuljahren nicht mehr drin, keine weiterführende Schule, keine Berufsausbildung. Als sie heiratete, war sie noch nicht volljährig. Und als ihr Sohn Abdi auf die Welt kam, war sie erst 17 Jahre alt. Wenig später kam ihr Mann in dem seit Jahrzehnten von Terror zerfressenen Land ums Leben. Jamila lebte mit Abdi bei der Mutter ihres verstorbenen Mannes. Doch das lief nicht gut. "Wir hatten keine gute Beziehung", sagt Jamila. Sie wollte nur noch raus und weg, und entschloss sich schließlich, ein neues Leben in Europa zu suchen.

"Zu flüchten ist nicht einfach", sagt Jamila. Die Route durch mehrere afrikanische Staaten und über mehrere Tausend Kilometer durch die Sahara nach Libyen "ist für ein Kleinkind zu gefährlich". Die Strapazen, die Hitze, der Hunger, zu wenig zu trinken - "ich konnte nicht das Leben meines Sohns riskieren". Die Entscheidung alleine zu gehen und Abdi bei der Großmutter zurückzulassen, bis sie ihn später zu sich nachholen könnte, war vernünftig und dennoch "sehr, sehr schwer".

Im Januar 2015 verabschiedete sich Jamila und schlug sich alleine bis in den Norden Libyens durch. Im Herbst 2015 fand sie einen Platz mit etwa 80 anderen auf einem Schlauchboot, das sie nachts aufs Mittelmeer brachte. Sie hatten Glück. Schon am folgenden Tag wurden sie von einem Schiff aufgenommen, das sie nach Italien brachte. Jamila wollte weiter, Deutschland war ihr Ziel. Mit einem Flix-Bus fuhr sie über die Alpen und "am 17. November 2015" - wie alle Geflüchteten hat Jamila das Datum ihrer Ankunft fest im Gedächtnis - "bin ich am Münchner Hauptbahnhof angekommen".

Am Tag vor Heiligabend 2015 kam sie in den Landkreis Erding. In den fünf Jahren seitdem hat sie kontinuierlich und zielstrebig gelernt: einen Deutschkurs bei ehrenamtlichen Asylhelfern, einen offiziellen Lehrgang bei BFZ, zwei Jahre an der Berufsschule, einen Sprachkurs für Fortgeschrittene und einen amtlichen Integrationskurs an der Volkshochschule, anschließend eine Ausbildung zur Krankenpflegehelferin. Und es geht weiter. Aktuell macht sie die dreijährige Pflegeausbildung an der Gesundheitsakademie am Klinikum Erding.

In all den Jahren hielten Jamila und Abdi nur über Skype Kontakt. "Es war immer mein Ziel, ihn zu mir zu holen", sagt sie. Wobei sie sich damit erst mal bei der Großmutter durchsetzen musste. "Es hat lange gedauert, bis sie das akzeptiert hat." Zunächst war ihr Wunsch aber sowieso unmöglich, und als es prinzipiell ging, ohne Hilfe nicht zu machen. Ohne die Unterstützung einer ehrenamtlichen Asylhelferin, mit der Jamila seit Jahren verbunden ist, hätte gar nichts geklappt. Und auch nicht ohne Julia Detterbeck, die für den katholischen Sozialverband In Via in Erding im Jugendmigrationsdienst arbeitet.

Jamilas Asylverfahren brachte ihr zunächst nur ein sogenanntes Abschiebungsverbot. Kinder zu sich zu holen ist in diesem Fall nicht drin. Jamila gab nicht auf, klagte vor dem Verwaltungsgericht und hatte Erfolg. 2018 wurde sie als Flüchtling anerkannt, womit gleichzeitig ein "erleichterter Familiennachzug" möglich wurde - für den man allerdings professionelle Hilfe benötigt. "Ich bin sofort zu In Via gegangen", sagte Jamila, "und Frau Detterbeck hat mir geholfen die Anträge zu stellen".

In Kürze zusammengefasst, was etwa zwei Jahre in Anspruch nahm: Für einen Termin bei der deutschen Botschaft in Nairobi, die auch für Somalia zuständig ist, muss man sich ein Jahr vorher anmelden; eine gute Freundin von Jamila besorgte derweil in Somalia eine Geburtsurkunde und einen Pass für Abdi; dann brauchte es einen DNA-Test zur Absicherung, dass die beiden wirklich Mutter und Kind sind; die Freundin holte Abdi bei der Großmutter ab und zog gemeinsam mit dem Buben nach Nairobi; um schließlich mit einer Vollmacht von Jamila ausgestattet für diese den Termin bei der Botschaft wahrnehmen zu können. Die stellte schließlich - nach Rücksprache mit dem Ausländeramt in Erding - ein Visum für Abdi aus, der schließlich am 11. November zu seine Mutter fliegen konnte, um fortan mit und bei ihr in Erding leben zu können.

"Familiennachzug ist sehr teuer", sagt Julia Detterbeck. Jamila konnte nur einen Teil der Kosten selbst aufbringen. Zum Glück für sie gibt es einen Fonds der Erzdiözese München-Freising mit Fördermittel für Flüchtlinge und den SZ-Adventskalender, der In Via ebenfalls für solche Fälle Geld zur Verfügung stellt. Jamilas und Abdis Familienzusammenführung ist ein noch zu seltener Fall. Viele andere warten auf ein Wiedersehen.

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Quelle:
SZ vom 24.12.2020
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