Süddeutsche Zeitung

Erding:Gegen die Gleichgültigkeit

Als sich Deutschland im Herbst 2015 für Geflüchtete öffnete, begannen viele Menschen in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe mitzuarbeiten. Ein SZ-Gespräch mit Maria Brand, Maria Feckl und Franz Leutner, die sich noch immer engagieren und es auch weiterhin tun wollen

Von Florian Tempel

Flucht und Migration ist seit Abrahams Zeiten ein Menschheitsthema, nicht erst seit fünf Jahren. Der Herbst 2015 war allerdings ein einschneidendes und nachwirkendes Ereignis in Deutschland. Maria Brand, ehrenamtliche Asylberaterin der ersten Stunde, Maria Feckl vom Helferkreis Forstern und Franz Leutner, Sprecher des Vereins Flüchtlingshilfe Dorfen, erinnern sich zurück, bewerten die Gegenwart und blicken in die Zukunft.

SZ: Frau Brand, Frau Feckl, Herr Leutner, die aktuellen Ereignisse rufen uns den Herbst und Winter 2015 wieder in Erinnerung. Was fällt Ihnen spontan ein?

Maria Brand: Ich hatte mich 2015 sofort an die Zeit Anfang der 1990er-Jahre erinnert. Da hatten wir plötzlich 400 000 Flüchtlinge in Deutschland, und schon bei diesen Zahlen kam damals Angst auf, wie man das schaffen sollte. Die Politik hat dann sofort angefangen, die Gesetze zu verschärfen. Und davor hatte ich 2015 Angst: dass es genauso wieder losgeht, dass man wieder alles tut, um Flüchtlinge abzuschrecken und ihnen das Leben schwer zu machen.

Im Herbst 2015 wurde am Fliegerhorst Erding in aller Eile der Warteraum Asyl aufgebaut. Dass sehr viele Menschen kamen, war nunmehr unübersehbar - und es änderte sich sehr schnell sehr viel.

Maria Brand: Das Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik hat festgestellt, dass es in den vergangenen fünf Jahren 40 Neufassungen in den Asyl- und Aufenthaltsgesetzen mit zum Teil umfassenden Änderungen gab, fast immer zum Negativen für die Geflüchteten. Es wird unentwegt geschraubt, aber nicht an einem Konzept, um die Integration möglichst gut zu schaffen.

Tatsächlich ging es aber nicht erst 2015 los, sondern schon Jahre vorher. Wie war der Anfang im Landkreis?

Maria Brand: Es war der 8. Dezember 2011. Ich hatte in der Zeitung gelesen, dass Asylbewerber in den Landkreis kommen und wo die erste Unterkunft sein wird. Katastrophalerweise war sogar die Adresse genannt. Ein paar Tage später, als die Ersten da waren, war auch schon ein Hakenkreuz an der Tür. Aber dank der Bekanntgabe der Adresse konnte auch ich dort hingehen. Ich stand also da vor der Tür, als gerade die Leute vom Landratsamt anwesend waren. Ich habe gesagt, ich komme aus der Asylarbeit, ich würde mich gerne ehrenamtlich engagieren und mitarbeiten. Dann war erst eisiges Schweigen, bis die Dame vom Landratsamt meinte: "Sie können einen Deutschkurs organisieren." Das war's. Ich hatte verstanden, dass Ehrenamtliche in den Unterkünften nicht erwünscht waren.

Wie war es in Forstern?

Maria Feckl: Anfang 2015 war absehbar, dass sehr viele kommen. Die Turnhalle der Berufsschule Erding war eine Notunterkunft. Ich erinnere mich an 2015 aus der Sicht der erwartungsvollen und tatendurstigen Ehrenamtlichen. Wir waren damals in Forstern eine Truppe von 30 Leuten. Die Gemeinde hatte Maria Brand zu uns geholt, zur Schulung der Ehrenamtlichen im Asylrecht. Alle waren sehr willig, sich zu informieren und weiterzubilden.

Und in Dorfen?

Franz Leutner: Es gab an die 200 Helfer in Dorfen, die sich der Familien und Einzelpersonen angenommen haben und letztendlich das geleistet haben, was sonst nicht geleistet wurde. Speziell die Verfahrensberatung. Wir hatten einige Juristen dabei, die sich gut informiert haben, so dass wie die Menschen gut begleiten konnten bei ihren Anhörungen und wenn es ans Verwaltungsgericht ging. Es war beeindruckend was in Dorfen auf die Füße gestellt worden ist.

Ist rechtliche Beratung der Geflüchteten ein wesentlicher Punkt der Arbeit oder hat sich da etwas mit der Zeit geändert?

Franz Leutner: Bei denen, die anerkannt sind, ist das neue Aufgabenfeld, Wohnungen und Arbeit zu suchen. Und bei den Menschen, die nur geduldet sind, schaut man, dass sie Arbeitsgenehmigungen bekommen.

Maria Feckl: Die Asylrechtsberatung ist bei uns immer noch Thema.

Maria Brand: Es ist neben der Unterbringung und Versorgung das Wichtigste für Asylsuchende. Dieses Feld wurde bisher aber komplett den Ehrenamtlichen überlassen, die auf diese verantwortungsvolle Aufgabe nicht vorbereitet wurden und sich damit allein gelassen und häufig überfordert fühlen.

Maria Feckl: Und Deutschkurse wären wichtig. Aber es ist nicht mehr die Power dahinter, weil wir nicht mehr die Ehrenamtlichen dafür haben.

Ehrenamtliche Arbeit gibt es auf vielen Gebieten. Ist die Flüchtlingshilfe mittlerweile auch eine etablierte Art des ehrenamtlichen Arbeitens?

Maria Feckl: Es ist nichts, was "in" ist. Wenn du einen netten Abend willst, erzählt du nicht unbedingt deinen Freundinnen und Freunden, dass du Flüchtlingshelferin bist.

Hat die Bereitwilligkeit, sich zu engagieren, stark abgenommen?

Franz Leutner: Es sind schon immer wieder Leute neu dazu gekommen. Aber aus dem großen Engagement ist die Luft heraus. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass es eine sehr frustrierende Tätigkeit ist. Oft begleitet man jemanden sehr lang und am Schluss wird er dann doch abgeschoben. Oder wenn man für große Familien Wohnungen sucht, das ist eine uferlose Geschichte.

Aber man muss doch auch positive Ergebnisse haben.

Franz Leutner: Das sind seltene Ereignisse und es gibt Rückschläge. Ein Beispiel: Wir hatten das mit den Arbeitsverboten, dann haben wir einige in Arbeit gebracht, aber durch Corona sind die alle wieder ausgestellt worden. Und man muss auch eines klar sehen: Die Flüchtlingsarbeit ist eine Sache, die durch Gesetze und Verordnungen behindert wird.

Die eine Seite der Asylpolitik sind die deutschen Gesetze. In Bayern haben aber Landräte auch Handlungsspielräume, die sie in die eine oder andere Richtung nutzen können. Es gibt eine spezielle Asylpolitik hier im Landkreis. Es gab einen Flüchtlingsshop mit einem sonderbaren Punktesystem, Einkleideaktionen mit Ramschware und den Kommunal Pass als Bargeldentzug. Frau Brand, Sie sind Mitglied in "Unser Veto", dem Landesverband ehrenamtlicher Helfergruppen. Wie besonders ist der Landkreis Erding?

Maria Brand: Ich habe zum Beispiel im Frühjahr eine kleine Umfrage zu Internet und Wlan in bayerischen Unterkünften gemacht, weil ich wissen wollte, wie es in anderen Landkreisen ist. Fast alle waren überrascht, dass Internet in den Unterkünften bei uns nicht zugelassen wurde. Ich habe nur aus einem anderen Landkreis gehört, auch unser Landrat war absolut dagegen.

Die besonders harte Erdinger Linie bei den Arbeitserlaubnissen war mit Zahlen und Aussagen belegt. Tut sich da etwas?

Maria Brand: Es hat sich etwas getan, aufgrund eines Bundesgesetzes Ende 2019, nicht wegen besserer Einsicht auf Landkreisebene: Wer neun Monate im Land ist, darf nun arbeiten. Aber von 2017 bis Ende 2019 waren es hier verlorene Jahre.

Maria Feckl: Viele junge Leute, die bei uns waren und die Berufsintegrationsklassen gemacht haben, durften danach nicht arbeiten. Einige sitzen bis heute, ohne dass sie arbeiten dürfen, in der Unterkunft. Dabei ist es nicht so, dass sie irgendwem hier die Arbeit weggenommen hätten. Die Jugendlichen, von denen ich spreche, wollten durch die Bank alle in Pflegeberufe. Was ist der Sinn der Sache, wenn wir sie zwei Jahre lang die Berufsintegrationsklasse machen lassen und dann sagen, du darfst keine Ausbildung machen?

Man sieht, dass es in der Flüchtlingsarbeit, anders als bei anderen ehrenamtliche Tätigkeiten, ein Konfliktpotenzial mit der Politik und den Behörden gibt.

Maria Brand: Das ist schon immer so. Ich kenne das seit 30 Jahren nicht anders. Wir haben ja unterschiedliche Ansätze. Es ist auch unser Auftrag, darauf hinzuweisen, was nicht gut läuft. Wir sind dadurch immer wieder lästig.

Franz Leutner: Es gibt natürlich viele, die wollen nur die Leute unterstützen, die sind ganz, ganz wichtig. Aber wir brauchen auch die Leute, die den Mut haben, darauf hinzuweisen, wo strukturelle Probleme sind. Wir haben zum Beispiel in Lindum draußen eine Unterkunft ohne Verkehrsanbindung, die für mehr als hundert Menschen geplant war. Erst durch Verhandlungen mit der Regierung von Oberbayern haben wir erreicht, dass die Belegung bei 70 Personen gedeckelt worden ist. Nach Jahren haben wir jetzt auch eine Anbindung hingekriegt. Das sind strukturelle Probleme, die vielleicht auch politische Absicht sind, nach dem Motto, die Lebensverhältnisse sollen so schlecht sein wie möglich, um abzuschrecken.

Noch mal zurück zum Anfang. Der Warteraum Asyl hat im Herbst 2015 aufgemacht, bis Ende Februar 2016 waren mehr als 100 000 Menschen dort, dann waren die Grenzen wieder dicht. Durch die aktuellen Ereignisse rückt wieder ins Bewusstsein, dass sich Zehntausende Geflüchtete in Griechenland und anderswo über Jahre aufgestaut haben.

Franz Leutner: Da muss man schon sagen, das haben alle gewusst. Alle beobachten das ja von Anfang. Wir haben versucht, eine Initiative zu starten, damit sich auch der Landkreis Erding bereit erklärt, Leute aufzunehmen. Um Druck von unten zu machen, damit die Regierungen das nicht mehr ignorieren können.

Sie sagen es doch selber, man findet gar keine Wohnungen für Geflüchtete.

Franz Leutner: Das ist doch eine Frage des Willens. Man muss eben Wohnraum schaffen. Man kann doch nicht sagen, das ist der Status, es geht nichts und wir haben keinen Platz. Man muss die Not der Menschen sehen und dann muss man handeln. Wir sind doch einer der reichsten Landkreise in Bayern. Warum soll es da nicht möglich sein, dass wir noch ein paar Leute aufnehmen? Man muss sich klar machen, was in diesen Lagern passiert. Da werden Menschen mürbe gemacht, frustriert und traumatisiert. Später muss man die Leute dann doch aufnehmen, es bleibt ja gar nichts anderes übrig. Letztendlich schaffen wir uns so Probleme, die wir nicht mehr bewältigen können. Die einzige Antwort darauf ist, dafür zu sorgen, dass die Leute, die bei uns ankommen, so gut wie möglich integriert werden.

Wie sehen Sie die Zukunft?

Franz Leutner: Was mich bewegt, ist die Frage: Was macht das mit unserer Gesellschaft, wenn man bewusst wegschaut? Wird das zu unserer normalen Mentalität, dass wir einfach zuschauen, wie andere Leute verrecken, dass wir zuschauen, wie jemand am Ertrinken ist, dass wir ihn ertrinken lassen, nur weil andere auch nicht helfen? Was macht es mit unseren Kindern, wenn andere Menschen unter verheerendsten Bedingungen leben? Wir reden darüber nicht mit unseren Kindern, wir ignorieren das einfach. Das Wegschauen wird Standard.

Maria Brand: Das ist die Verlogenheit von Europa: Wir verraten unsere Werte.

Maria Feckl: Die Menschenwürde fällt hinten runter. Wie der Papst es 2014 gesagt hat: Es ist die Globalisierung der Gleichgültigkeit.

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Quelle:
SZ vom 02.10.2020
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