Ebersberg:Ein Schluck aus der Hirnschale gegen die Seuche

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Heute Corona, vor 301 Jahren die Pest. Die Predigt eines Jesuitenpaters zeigt: Es gab klare Vorstellungen darüber, wer an der Lage schuld war

Von Merlin Wassermann, Ebersberg

Es sind markige Worte, mit denen Franz Xaver Hallauer in seiner Predigt in Ebersberg am ersten Sonntag im Advent des Jahres 1720, also am 1. Dezember, die Pest beschreibt. Es sei klar, dass die "schwäre Hand Gottes mit der so schreckbahren Straff- und Zucht-Ruthen" auf die Erde niedergefahren sei, um "die sündhaffte Welt von so vilem Sünden-Unflat" zu säubern. Der Jesuit Hallauer hält an diesem Sonntag eine "Pestpredigt", nachdem zuvor eine große Wallfahrt von München nach Ebersberg stattgefunden hatte, um Schutz vor der Pest zu erflehen. Dabei war die Furcht vor der Seuche größer als die unmittelbare Bedrohung in München und Umgebung. Zwar wütete die Pest im Jahr 1720 furchtbar, doch tat sie es im etwa 1000 Kilometer entfernten Marseille, wo Zehntausende den Tod fanden.

"Dass die Gefahr als so akut eingeschätzt wurde, zeigt zwei Dinge", wie Rainald Becker, Professor für Bayerische Landesgeschichte an der LMU München, ausführt. "Zum einen waren Seuchen und Seuchenerfahrungen zu dieser Zeit etwas Alltägliches, man musste darauf gefasst sein, dass sie jederzeit und überall auftreten können, auch in München oder Ebersberg. Zum anderen sehen wir hier aber auch, dass die Frühe Neuzeit eine Mediengesellschaft war, mit weitgespannten Kommunikationsnetzen; was in Marseille passierte, wurde schnell übermittelt und war hoch aktuell für die Herrscher und den Klerus."

Letztere reagierten schnell mit einer Art vorbeugenden Public-Health-Maßnahme, der Wallfahrt, die auf Anraten der Jesuiten durch die Kurfürsten Max II. Emmanuel von Bayern und dessen Bruder, Joseph Clemens, Kurfürst von Köln, angeordnet wurde. "Man hat damals zwischen irdischer und spiritueller Medizin und Seuchenschutzmaßnahmen unterschieden, das eine wäre ohne das andere nicht denkbar gewesen." Wo heute Infektionszahlen und Impfquoten den Diskurs dominieren, war damals die Sorge um das Seelenheil der Menschen von ebenso großer Bedeutung. Die Predigt Hallauers erfüllt zwei Funktionen. In ihrer ersten Rolle liefert sie eine Einordnung dessen, was geschieht und wieso es die Pest überhaupt gibt: Die Seuche ist eine Strafe Gottes für das sünd- und lasterhafte Verhalten der Menschen, zunächst einmal derer in Marseille. In misogyner Manier werden besonders die Frauen als Sündenböcke herangezogen. Hallauer spekuliert, dass "in der Gegend vil sündhaffte und wenig büssende Magdalenae gewesen seyn" - will heißen, Prostitution, was gleichgesetzt wurde mit der Todsünde "Ehebruch" beziehungsweise unehelichem Sex, wurde als eine der Hauptursachen der Pest betrachtet. Schenkt man Hallauer Glauben, so war die zweite große Ursache (weibliche) Eitelkeit.

Der Priester bemerkte korrekt, dass die Pest mit einem Schiff kam, die Grand-Saint-Antoine, das fremde, "orientalische" Waren geladen hatte, auch Stoffe und Seide. Hallauer kritisiert die Lust an diesen Waren und Kleidern sowie den globalisierten Handel insgesamt. Ehebruch, Eitelkeit und exotische Waren gab es auch in Ebersberg und München. Hallauer geißelt deshalb auch seine Zuhörer dafür, dass "eytle, üppige, übermäßige Kleyder-Pracht ... aller Orthen" überhandgenommen habe, und fordert, dass man zur "Alt-Teutschen-Bidermännischen Aufrichtig- und Ehrbarkeit" und Tracht zurückkehre. "Damals wie heute war eine weltumspannende Waren- und Personenzirkulation Auslöser sowohl für eine Seuche, als auch für eine Globalisierungskritik", merkt Becker an.

Die zweite Funktion der Predigt bestand darin, Praktiken und Handlungsanleitungen zu entwerfen. Während Covid-19 unzählige Menschen zur Untätigkeit verdammt hat, war früher eine Seuche eine Zeit hoher (spiritueller) Aktivität. Sie sollten dem Beispiel Jesu in der Wüste folgen und sich einer vierzigtägigen spirituellen Quarantäne und Askese unterwerfen - oder es zumindest versuchen. Neben der Vermeidung der Sünden wurden die Menschen dazu angehalten, zu beten, Buße zu tun, zu spenden oder auch zu pilgern.

Ebersberg hatte zu dieser Zeit eine besondere Rolle als Seuchen-Wallfahrtsort. Seit 931 lagert dort die (mutmaßliche) Hirnschale des Märtyrers St. Sebastian, eine in der katholischen Kirche heilige Reliquie. Sebastian gilt als Pestheiliger, und man ging davon aus, dass Gebete an ihn mit der Bitte um Schutz vor der Pest, insbesondere vor Ort in Ebersberg, "in besonderer Weise erhört" wurden, wie Thomas Warg, Stadthistoriker Ebersbergs, erklärt. Mit Beten allein war es nicht getan. "In dieser Zeit hat man vermutlich noch Wein aus der Hirnschale getrunken, wenn auch nicht direkt, sondern mittels silberner Strohhalme," erklärt Warg. Dem Trinken aus der Hirnschale wurden quasi-magische Kräfte zugeschrieben, es diente dazu, Krankheiten aller Art abzuwehren. "Damals hieß alles Pest, der Heilige Sebastian würde vermutlich auch gegen Corona helfen."

Der Vergleich des Umgangs mit Seuchen vor 300 Jahren und heute offenbart Parallelen wie die Rolle globaler Güter-, Personen- und Informationsnetzwerke, jedoch noch mehr Unterschiede. Allem voran war die damalige Haltung stärker geprägt durch eine spirituelle Sicht auf die Pest und die eigenen Handlungen, um das kosmische Unheil abzuwenden. Doch kann man aus der Vergangenheit etwas lernen? In diesem Fall eher nicht, jedenfalls wirkt die Strategie, weniger Seide zu tragen, auf außerehelichen Sex zu verzichten und Glühwein aus Hirnschalen zu schlürfen, aus heutiger Sicht zweifelhaft. Dann doch lieber Maske tragen und sich impfen lassen.

© SZ vom 01.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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