Süddeutsche Zeitung

1250 Jahre Dorfen:Sterben und Überleben

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Ein Vortragsabend zur jüdischen Geschichte in Dorfen macht deutlich, dass die Verfolgung von jüdischen Menschen nicht auf die Zeit des Nationalsozialismus begrenzt war. Bei einem Pogrom 1338 wurden alle Juden in Dorfen getötet. Nach 1945 lebten dann für einige Jahre so viele jüdische Menschen in der Stadt wie nie zuvor.

Von Florian Tempel, Dorfen

Mit dem 1250-Jahre-Dorfen-Jubiläumsjahr feiert die Stadt ihre Geschichte und die ihrer Bevölkerung. Doch wer gehörte eigentlich in der Vergangenheit alles dazu? Bei einem Vortragsabend der Geschichtswerkstatt Dorfen im Kulturzentrum Jakobmayer wurde der Blick auf frühere jüdische Einwohnerinnen und Einwohner von Dorfen gerichtet. Der katholische Kirchenhistoriker Professor Manfred Eder legte dar, dass 1338 alle Juden in Dorfen umgebracht wurden und später nur noch ganz vereinzelt jüdische Menschen in der Stadt lebten. Doris Minet und Monika Schwarzenböck von der Geschichtswerkstatt, die am Donnerstagabend mit dem Tassilo-Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung ausgezeichnet worden ist, zeigten in ihrem Vortrag, dass unmittelbar nach der Shoah so viele Jüdinnen und Juden in Dorfen lebten, wie wohl nie zuvor. Etwa 400 Namen jüdischer DPs (Displaced Persons) sind ihnen bekannt. Und noch eine Zahl: Nach 1945 kamen in Dorfen mindestens 46 Babys jüdischer Eltern auf die Welt.

Manfred Eder holte bei seinem Vortrag zunächst weit aus und legte dar, dass schon Kirchenväter wie Augustinus oder Johannes Chrysostomos mit theologischen Argumenten die Grundlage für christliche Judenfeindlichkeit bereiteten. Nachdem das Christentum im 4. Jahrhundert zur römischen Staatsreligion geworden war, sei das Zusammenleben jedoch noch bis ins 11. Jahrhundert durchaus friedlich verlaufen. Erst mit den Kreuzzügen kam es zu grausamen Pogromen, die von den Tätern mit drei üblen Verleumdungen - nicht selten im Nachhinein - rechtfertigt wurden: Die Juden begingen Ritualmorde an Kindern, sie vergifteten Brunnen und schändeten Hostien. In Verbindung mit den Behauptungen, Juden trachteten danach, andere Menschen ökonomisch auszubeuten und politisch zu beherrschen, seien die mittelalterlichen Erzählungen "klassische Verschwörungstheorien" gewesen.

Professor Eder legte weiter dar, dass die Pogrome gegen Juden von finanziellem Vorteil für die Täter waren - und kam damit dem Judenmord im Jahr 1338 in Dorfen näher. In jenem Jahr habe ein gigantischer Schwarm von Wanderheuschrecken in Niederbayern die Ernte vernichtet. Das führte mittelbar dazu, dass man in Deggendorf - wie zuvor im Elsass, in Niederösterreich und Böhmen - alle Juden in der Stadt ermordete. Da Juden alle mögliche Arten von Berufen verboten waren, war Geldverleihen damals ihre wesentliche Profession. Da ihre Schuldner aufgrund der vernichteten Ernte ihre Kredite nicht zurückzahlen konnten, ermordeten sie am 30. September 1338 in Deggendorf die Geldverleiher und alle ihre Angehörigen und entledigten sich so der Schulden bei ihnen. Wahrscheinlich wurden sie erschlagen oder auf Scheiterhaufen verbrannt.

In den zwei Wochen danach folgte man dem grausamen Beispiel in vielen anderen Städten, Märkten und Gemeinden. Es gibt dafür eine zeitnahe schriftliche Quelle: Im Martyrologium des seit 1296 geführten Nürnberger Memorbuchs, eines jüdischen Totengedenkbuchs, sind die Orte festgehalten, in denen bei dieser Pogromwelle Juden ermordet wurden. Die Liste der bayerischen "Blutschuld-Städte, in denen Juden getötet wurden" beginnt mit Deggendorf, es folgen 20 weitere Orte, offenbar in chronologischer Reihenfolge: Landau, Dingolfing, Braunau, Vilshofen, Pfarrkirchen, Eggenfelden, Massing, Vilsbiburg, Moosburg, Velden, Erding, Straubing, Pfeffenhausen, Landshut , Kraiburg, Neuötting, Dorfen, Neumarkt, Kelheim und Cham. In einer Urkunde, die nur zwei Wochen nach den ersten Morden ausgestellt wurde, "verzeiht" der niederbayerische Herzog Heinrich XIV. alles und bestätigt, dass mit dem Auslöschen der Juden auch die Schulden bei ihnen getilgt seien.

Jahre später wird als vermeintliche Entschuldigung der Verbrechen eine angebliche Hostienschändung erfunden. Diese Geschichte ist dreist und primitiv erlogen. Angeblich hätten Deggendorfer Juden gemeinsam versucht, eine Hostie auf die verschiedenste Art zu zerstören, was ihnen weder durch Durchbohren, Zerhämmern oder Verbrennen gelungen sei, worauf sie sie, oben drein mit Gift, in einen Brunnen geworfen hätten. Die Hostie sei jedoch unversehrt aus dem Brunnen aufgestiegen und einem eben geweihten Priester in seinen Abendmahlkelch geflogen.

Weil das natürlich ein Wunder war, entstand die "Deggendorfer Gnad" genannte Wallfahrt, die Deggendorf zu einem der größten bayerischen Wallfahrtsorte machte und der Stadt jahrhundertelang viel Geld einbrachte. Die Wallfahrt wurde erst, nachdem Professor Eder die unglaublich beschämende Lügengeschichte in seiner Doktorarbeit als solche klar benannt hatte, im Jahr 1991 eingestellt.

Nach weiteren Pogromen lebten bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts zumindest einzelne Jüdinnen und Juden in Dorfen, ebenso wie in Erding zu dieser Zeit. Ab 1450 war aber schließlich allen Juden der Aufenthalt in Ober- und Niederbayern verboten. Von Juden in Dorfen ist in den folgenden Jahrhunderten nichts mehr bekannt. Offenbar kamen erst wieder Ende des 19. Jahrhunderts jüdische Viehhändler beruflich nach Dorfen und Umgebung, ohne sich hier niederzulassen.

Doris Minet und Monika Schwarzenböck, die sich seit 13 Jahren mit der Geschichte jüdischen Lebens in Dorfen beschäftigen, sind auf einen "aktenkundigen Vorgang" vom August 1934 gestoßen, der daran anknüpft. Der Dorfener Gemeinderat billigte einstimmig eine Aufforderung des Bezirksamts, dass fortan bei Viehmärkten "das Handeln in jüdischer Sprache verboten" war. Es war der Beginn der von den Nationalsozialisten geplanten totalen Auslöschung aller jüdischen Menschen.

Elf Jahre später, nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, kamen etwa 400 Shoah-Überlebende in die Stadt. "Nazis müssen räumen" lautete die Überschrift über eine Meldung in der Süddeutschen Zeitung am 23. Oktober 1945. Die jüdischen DPs wurden bevorzugt in Häusern, Wohnungen und Zimmern von NSDAP-Mitglieder einquartiert, unter anderem in der Villa des Ziegelfabrikanten Albert Meindl und in der Villa des Dorfener NS-Schriftstellers Josef Martin Bauer. In einem Gutshof der Brauereifamilie Bachmayer wurde ein Ausbildungs-Kibbuz mit dem Namen "Blumengartenschule" eingerichtet. Im Jakobmayer war der zentrale Versammlungsort und der Sitz des Jüdischen Komitees Dorfen. Bei Renovierung des Jakobmayer wurden an den Wänden im Treppenaufgang ein gemalter Davidstern und eine Menora entdeckt.

Viele der Überlebenden waren noch sehr jung. Doris Minet und Monika Schwarzenböck nannten exemplarisch die 20-jährige Franka Rubinstein, die fünf Jahre in Konzentrationslagern war, Auschwitz, Buchenwald, Bergen-Belsen und Theresienstadt überlebt hatte. Viele Paare fanden sich in Dorfen, es gab viele Eheschließungen, darunter auch neun deutsch-jüdische Ehen. Und es kamen mindestens 46 Kinder von jüdischen DPs in Dorfen zur Welt. Zwei von ihnen waren Lea Sella und Tova Halperin, die 2013 zu einem großen Vortragsabend unter dem Titel "Wie kam der Davidstern in den Jakobmayer?" aus Israel anreisten.

Die allermeisten jüdischen Überlebenden wanderten in die USA, nach Israel und viele andere Länder aus. Beruflich in Dorfen etwas auf die Beine zu stellen, war ihnen kaum möglich. Ein Beispiel ist der Metzger Szmul Cynamon, der eine koschere Metzgerei eröffnete. Der Dorfener Gemeinderat war einstimmig dagegen, da er angeblich das Geschäft der zwei ortsansässigen Metzger schädigen würde. Cynamon, der fünf Jahre Auschwitz überlebt und dort seine ganze Familie verloren hatte, setzte die Genehmigung für seine Metzgerei bei übergeordneten Behörden durch - und wanderte bald darauf nach Kanada aus.

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