Heute brettern Motorräder unter ihm durch und Touristen nutzen ihn als Selfie-Kulisse. Früher kassierte der Torwärter Wegegeld und wenn der Feind nahte, rasselte ein Gitter runter: der Schöne Turm in Erding. Er ist das Wahrzeichen der Stadt und hat mehrere Kriege überstanden. Bei großen Hochwassern in den 20er- und 40er-Jahren strömten die Wassermassen durch ihn hindurch, Heinz Rühmann flog im Filmklassiker "Quax, der Bruchpilot" an ihm vorbei und die SPD wählte ihn als Ort ihrer Neugründung. In der Nazizeit marschierte die SA unter ihm durch und später war er ein beliebter Treffpunkt für Schwarzhändler. Der 35 Meter hohe Torturm an der Landshuter Straße verleiht der Stadt, zusammen mit seinem großen Bruder, dem Stadtturm, seit jeher ihr typisches Aussehen. Der Schöne Turm - auch Landshuter Tor, Ostertor, Kreuztor und Heilig-Geist-Tor genannt - wurde etliche Male renoviert und verändert, im Dreißigjährigen Krieg zerstört und wieder aufgebaut und stand sogar kurz vor dem Abriss. In der Geschichte der Erdinger Bauwerke nimmt er oft eine Sonderrolle ein, die ihn bis in die Gegenwart rettete. Von den vier mittelalterlichen Stadttürmen Erdings ist er der einzige, der übrig blieb. Seine Entstehung jedoch liegt im Dunkeln.
1408 ist das Jahr, das lange als das der ersten urkundlichen Erwähnung des Schönen Turms galt. "Von 1408 ist man seit den Anfängen der historischen Forschung ausgegangen", sagt Stadtarchivar Markus Hiermer. Vom 20. Jahrhundert an wurde das Datum fälschlicherweise auch als Erbauungsjahr genannt. So steht es beispielsweise auf Wikipedia. "Aber das tatsächliche Erbauungsjahr wird wohl nie mehr erforscht werden können", sagt Hiermer. Der kleine Mann ist ein Archivar wie er im Buche steht: winzige Brillengläser und eine riesige Begeisterung für die Vergangenheit. Diese Vergangenheit macht es ihm nicht immer leicht bei der Arbeit. "Im Dreißigjährigen Krieg sind alle Unterlagen des Bauamts verbrannt," sagt Hiermer hinter seinem Schreibtisch, der mit Flyern, Papieren und Stempeln übersät ist. In seinem Kämmerchen im hintersten Winkel des Rathauses reichen die Regale bis unter die Decke, Pappkartons stapeln sich auf dem Tisch, Ordner bewahren Namen von Straßen und Würdenträgern für die Nachwelt. Nichts aber stammt aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg. 1632, 1634 und 1648 stand Erding in Flammen, nachdem Schweden und Franzosen in die Stadt eingefallen waren. "Bei allem, was vorher war, stochere ich im Nebel", sagt Hiermer.
Doch es gibt auch bessere Momente für einen Archivar, wie im Jahr 2010, als Hiermer "rein zufällig" auf eine Erwähnung des Schönen Turms stieß, im Urbar von 1403, dem Besitzstandsverzeichnis des Klosters Neustift in Freising. Darin hieß es, dass ein Erdinger Bürger einen Garten "vor dem Ostertor" den Freisinger Mönchen schenkte. Damit ist bewiesen, dass es das Ostertor, wie der Schöne Turm damals wegen seiner Ost-Ausrichtung genannt wurde, schon 1403 gab und nicht erst 1408, wie bisher angenommen. "Da entgleisen mir alle Gesichtszüge, wenn ich so etwas entdecke," sagt Hiermer. Wenn man so will, hat er die Geschichtsschreibung um fünf Jahre verändert. Hiermer würde es nicht so ausdrücken. "Fünf Jährchen sind ja nicht prickelnd", sagt er.
Damals hatte das Stadttor noch keinen Turm. Den baute die Kommune erst um 1500 dazu, "zur Repräsentation", sagt Hiermer, "also einfach um anzugeben." Erding, das bis 1505 zum Herzogtum Bayern-Landshut gehörte, wollte den hohen Herren ein prunkvolles Eingangstor bieten. Daher auch der Name Landshuter Tor, weil es nach Landshut wies. Das schreibt der Kunsthistoriker Gerhard Koschade in seinem Kapitel zum Schönen Turm in Band 14 der Schriftenreihe "Erdinger Land". Als "das Beste, was je über den Schönen Turm geschrieben wurde", lobt Hiermer den Aufsatz. Anhand von Rechnungen und Auftragsschreiben der Stadtkammer verfolgt Koschade die frühe kunsthistorische und architektonische Geschichte des Bauwerks zurück.
Dort ist auch zu lesen, was es mit den raketenförmigen Anbauten seitlich am Schönen Turm auf sich hat. Tatsächlich sollten diese Flankierungstürmchen dem Bauwerk etwas Wehrhaftes verleihen. Schließlich gehörte der Schöne Turm zusammen mit drei weiteren Stadttoren zu einer mittelalterlichen Befestigungsanlage mit hohen Mauern und Wehrgängen, umschlossen von einem künstlichen Wassergraben mit Wall. All das in Stand zu halten, war teuer. Nicht nur der Wegzoll, den der direkt am Schönen Turm wohnende Torwächter von 1482 an jedem vorbeikommenden Verkäufer abknöpfte, floss in die Reparaturen. Auch das Gericht verordnete nicht selten, die verhängte Strafe in Mauersteinen zu begleichen. Mit der Erfindung moderner Waffen wurde die Steinfestung überflüssig. Man ließ sie bewusst verkommen und riss sie dann wegen Einsturzgefahr nach und nach ab. "An Denkmalschutz dachte kein Mensch", sagt Hiermer. Auch die Stadttore, Freisinger, Münchner und Haager Tor, entfernte die Stadt zwischen 1871 und 1906. Nur eines blieb: der Schöne Turm.
Auf der ersten überlieferten Abbildung des Schönen Turms von 1590 sieht man, dass er ursprünglich in einem langen Walmdach gipfelte. Bis es im Dreißigjährigen Krieg in Flammen aufging. Schon die ersten beiden Brände vernichteten Hunderte Erdinger Gebäude. Der Dritte, 1648, ließ nur noch sieben Häuser übrig. Vom Schönen Turm blieb eine Ruine. Für den Wiederaufbau griffen die Stadtväter tief in die Tasche und krönten den Turm mit einem barocken Zwiebeldach. "Das war damals eine Obsession, der dernier cri", also der letzte Schrei, sagt Hiermer. Die Handwerker wurden stattlich bezahlt und bekamen mehr als üblich, schreibt Koschade.
Vier Jahre dauerte der Wiederaufbau. 1668 war die neue Mütze mit Hauptkuppel, Laterne und kleiner Zwiebel fertig. Dass er Turm auf beiden Seiten eine Uhr bekam, zeuge von reinem Luxus, so Koschade. Dass sich die Architekten damals an der Kuppel des Stadtturms orientierten, ist nicht zu übersehen. Auch wenn die des Schönen Turms keine exakte Kopie ist. Die prächtige neue Kuppel hatte Koschade zufolge jedoch keine politische Aussage. In Landshut residierte nämlich längst kein Landesfürst mehr. Stattdessen sei der Schöne Turm vollends zum Schmuckstück und Aushängeschild der Stadt geworden. Auch wenn mit den Regierenden die aufgemalten Wappen wechselten und der Turm immer wieder neu gestrichen und geschindelt wurde, hatte er von da an seine typische Gestalt.
Markus Hiermer holt ein abgewetztes Buch aus dem Regal. Summend fährt er mit dem Finger die handgeschriebenen Zeilen auf den vergilbten, zerfledderten Seiten entlang. 1906 hatte der damalige Bürgermeister Friedrich Herbig begonnen, diese Häuserchronik zu schreiben. "1905 bis 1906 wurde die erste Fußgängerpassage durch den Schönen Turm geschaffen", sagt Hiermer beim Lesen. Dadurch entstand Raum für Läden, darunter eine Fleischbank und ein Wollladen. In den 30er-Jahren kam der zweite Durchgang hinzu. Noch heute sind Geschäfte am Fuße des Schönen Turms angesiedelt sowie Wohnungen. Einst lebte dort ein Polizeisoldat und - in früheren Jahren - der Torwärter. Das sogenannte Frisierhäusl nebenan gibt es laut Hiermer schon seit Jahrhunderten. Fast immer beheimatete es, wie der Name schon sagt, einen Baader, einen Friseur. So wie heute.
Dieses Frisierhäusl rettete dem Schönen Turm Ende des 19. Jahrhunderts mit das Leben. Die von Wind und Wetter beschädigten Holzschindeln der Kuppel sollten 1874 mal wieder ausgetauscht werden, schreibt Koschade in einem Zeitungsartikel von 1991. Ein teures Unterfangen. Zu teuer, fand die Stadt zunächst. Dann hieß es, das Leben der Bauarbeiter wäre gefährdet, weil der Turm marode sei. Kurz: Ein anderer Vorschlag musste her. Der lautete, den Turm zu köpfen und statt der Kuppel ein einfaches Zeltdach drauf zu setzen. Das Gemeindekollegium aber wollte lieber gleich den ganzen Turm abreißen. Es sah schlecht aus für das heutige Wahrzeichen, schließlich wurde kurz vorher das Münchner Tor abgetragen, später das Freisinger Tor. Man sah sie als nutzlos an, als "Relikt der Vergangenheit", das "dem Fortschritt im Weg" steht, schreibt Koschade. Aber: Das Baaderhaus grenzte an den Turm. Die Stadt hätte es kaufen müssen, um es ebenfalls abzureißen. Das wiederum war zu teuer. Der Schöne Turm blieb.
Im Zweiten Weltkrieg hatte er wieder Glück: Als Erding am 18. April 1945 von einem Fliegerangriff überrascht wurde, blieb er verschont. "Die östlichste Bombe schlug in der Landshuter Straße 4 ein", sagt Hiermer. Sie kam dem Schönen Turm am nächsten. Eine weitere landete direkt vor der Rathaustür. "Die Fenster wurden durch die Druckwelle rausgebolzt." Doch das Geschoss explodierte nicht komplett. "Sonst wäre das ganze Rathaus weggepustet worden wie der Schaum vom Bier" - und den Schönen Turm hätte es womöglich auch erwischt. Als die feindlichen Flieger aber abgezogen waren, stand das Wahrzeichen wie eh und je im Herzen der Stadt. Die Zeiger standen still, auf 15.20 Uhr - der Uhrzeit des Angriffs.
Aus dem Stadtbild Erdings ist der Schöne Turm heute nicht mehr weg zu denken. Zur Ernennung Erdings zur Großen Kreisstadt 2013 wurde das Bauwerk sogar auf eine Sonderbriefmarke gedruckt. Heute sind Privatwohnungen drin und die Stadt sucht einen Nachfolger für die ehemalige Ratsstube. Archivar Hiermer forscht indessen weiter nach den Wurzeln des Wahrzeichens. Seit Jahren wartet er darauf, dass die historischen Dokumente des Klosters St. Emmeram in Regensburg und die des Hochstifts Freising digitalisiert werden. Es könnte ja ein Hinweis auf den Schönen Turm drin sein. Jetzt müsste er Tausende, rein chronologisch geordnete Urkunden einzeln im Lesesaal durchgehen. Digital wären sie verschlagwortet. "Das sind Momente, nach denen sich der Archivar vor Sehnsucht verzehrt", sagt er. Vorerst bleibt 1403 das Jahr, in dem der Schöne Turm das erste Mal in der Geschichte auftaucht. Bis Hiermer etwas Neues findet.