Süddeutsche Zeitung

Corona zum Trotz:Paradoxe Auswirkungen

Am Amtsgericht Erding türmen sich die Zivilstreitigkeiten zwischen Fluggästen und Airlines. Dass viel weniger geflogen wird, macht sich nicht bemerkbar. Durch die Pandemie sind zahlreiche Prozesse wegen Stornierungen dazu gekommen

Von Gerhard Wilhelm, Erding

Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie haben dem Münchner Flughafen das niedrigste Verkehrsergebnis seit Eröffnung des Airports im Jahre 1992 beschert. Nur elf Millionen Passagiere nutzten im vergangenen Jahr den Flughafen. Doch am Amtsgericht Erding, das für zivile Streitsachen am Airport zuständig ist, merkt man davon nichts. Inzwischen übernehmen sogar Richter, die eigentlich für Strafsachen zuständig sind, Zivilstreitigkeiten. "Die Zahl der Zivilsachen ist mittlerweile Irrsinn", sagt Ingrid Kaps, die Direktorin des Amtsgerichts. 2020 seien die Eingangszahlen noch einmal höher gewesen als im Jahr zuvor. "Corona hat bei uns überhaupt keine Auswirkung."

10 Uhr, Saal 1, Verhandlung wegen eines Verstoßes gegen das Anti-Doping-Gesetz. So stand es zumindest auf einem alten Sitzungsaushang-Zettel. Doch im Saal 1 muss sich zur angegebenen Zeit Richter Björn Schindler mit einem Streit zwischen einer Airline und einem Passagier herumschlagen - wie seine Kollegen Michael Lefkaditis und Andreas Wassermann an anderen Tagen. Nur Richterin Michaela Wawerla befasst sich ausschließlich noch mit Strafsachen am Amtsgericht.

"Zum einen haben wir immer noch alte Flugverspätungssachen, da die erst nach drei Jahren verjähren", sagt Ingrid Kaps. Und dann seien die Stornierungsverfahren dazu gekommen aus der Corona-Pandemie. In vielen Fällen hätten wohl Airlines das bereits für die Flüge gezahlte Geld nicht rückerstattet. "Fakt ist, dass wir etliche Stornierungsverfahren haben."

Dazu komme, dass man eineinhalb Stellen verloren habe und Verhandlungen in Corona-Zeiten schwieriger durchzuführen seien. Eine Hilfe sei die mobile Videokonferenzanlage - die einzige im Amtsgericht, die von den Richtern rege genutzt würde. "Wir haben für die Benutzung inzwischen eine Excel-Tabelle eingerichtet, in der sich die Richter anmelden." Praktisch sehe das dann so aus, dass die Mitarbeiter der Geschäftsstellen die Videoanlage zwischen den vier Verhandlungssälen hin und her fahren. "Das ist nicht so toll und wir wären froh über feste Anlagen in jedem Saal", sagt Kaps. Aber momentan gehe das Geld des Staats in die Wirtschaft, die Unterstützung brauche, was die Amtsgerichtsdirektorin schon versteht. "Für die Zukunft würde ich mir aber schon wünschen, dass die Ausstattung so wird, wie zugesagt oder sogar ausgebaut", sagt Kaps. Auch in Nicht-Coronazeiten würde eine Videokonferenz eine Erleichterung in den Verhandlungen bedeuten, wenn längere Reisen sonst nötig seien, und zudem Prozesskosten sparen.

Schon vor Corona sei die Situation in der Justiz nicht einfach gewesen. Es fehlen einfach Stellen, in ganz Bayern. Auch in anderen Gerichten, die gut beschäftigt sind, mussten Stellen besetzt werden, sagt die Erdinger Amtsgerichtschefin. "Ich hoffe, dass sich die Stellenbesetzung im ersten oder spätesten zweiten Quartal heuer wieder bessert. Derzeit liege die Belastung pro Richter wohl wieder bei 1,75 Arbeitspensen." Dank der neuen Richterin Sandra Seeburger, die Kaps im Juli 2020 vorgestellt hatte, war diese Zahl auf zunächst 1,6 gesunken, "was aber immer noch nicht so prickelnd ist", wie Kaps damals sagte.

Auf der einen Seite gebe es natürlich weniger Strafsachen, da wegen der Corona-Einschränkungen zum Beispiel weniger Einbrüche und Diebstähle verübt werden, sagt Kaps. Und auch bei der Zuständigkeit habe es beim Amtsgericht eine Erleichterung geben: die Ermittlungsrichtertätigkeit während der Untersuchungshaft wurde ans Amtsgericht Landshut verlagert. Geblieben ist aber in Erding die Abschiebehaft. Damit seien Kapazitäten frei geworden bei Richtern, die ein "Mischreferat" haben - Zivil- und Strafsachen. Michaela Wawerla habe nur eine 0,75-Richterstelle und bei ihr habe man auf eine Aufspaltung verzichtet, sagt Kaps.

Eine richtige "Delle" erwartet die Leiterin des Amtsgerichts erst, wenn der Altstau und die Stornierungswelle erledigt seien. "Momentan wird ja nicht viel geflogen. Wir wären alle froh, wenn man mal weniger zu tun haben würde." Im Januar habe man gegenüber dem Vorjahresmonat schon einen kleinen Rückgang bei den Eingängen verzeichnet. "Wir brauchen aber den Rückgang auch, um mal wieder einen Grund in dem See der Fälle zu sehen. Spätesten wenn mal Corona überwunden ist, mag es nächstes Jahr auch erst sein, dann werden alle wieder fliegen wollen. Alle wollen raus, es muss gar keine Weltreise sein. Ein Gericht, das für einen Flughafen zuständig ist, der zu den meistfrequentiertesten zählt, der eine Drehscheibe ins Ausland ist, der wird nie an Arbeitsmangel leiden. Das wäre illusorisch anzunehmen."

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SZ vom 25.01.2021
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