Anzing:Von armen Seelen und bösen Geistern

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Schon lange vor Halloween hat man in den ersten Novembertagen Süßes verschenkt und draußen Lichter angezündet. Die Erdinger Heimatkundlerin Sandra Angermeier kennt sich aus mit alten und neuen Bräuchen

Von Alexandra Leuthner, Anzing

Wenn am Allerheiligenabend die Kinder mal wieder keine Lust haben, beim Abdecken zu helfen, dann ist das völlig in Ordnung. Ja, ihre Eltern sollten ebenfalls die Hände in den Schoß legen und die Reste der Mahlzeit stehen lassen, wo sie sind. Nein, das ist kein Aufruf zur systematischen Nahrungsmittelvernichtung, sondern ein alter Brauch, der noch bis vor 70, 80 Jahren im bayerischen Raum gepflegt wurde. In der Nacht vor Allerseelen überließ man die Reste der Mahlzeit den Seelen der geliebten Verstorbenen. In dieser Nacht nämlich, so glaubten die armen Leute, dürfen diese für kurze Zeit auf die Erde zurück, um sich einmal richtig satt zu essen. Allerdings nur die Seelen derjenigen, die noch nicht angekommen sind beim Herrgott, sondern aufgrund irdischer Verfehlungen im Fegefeuer herumirren, im Nirgendwo zwischen dem Hier, dem ganz Unten, der Hölle, und dem ganz Oben, dem Paradies. Die Bauersfrauen haben sogar die Messer in der Küchenschublade mit den Schneiden nach unten gedreht, damit die armen Seelen sich nicht verletzen können bei ihrer Stippvisite im Diesseits.

Sandra Angermaier weiß von solchen althergebrachten Mythen und Gebräuchen zu erzählen wie andere vom neuesten Kantinenklatsch. Und wenn die Geschäftsführerin des Kreisvereins für Heimatpflege und Denkmalschutz in Erding erst mal ein paar Kürbisse aufstellt und darin Kerzen anzündet, dann weiß sie auch, warum sie das tut. Von wegen Halloween sei so ein "neumodisches Zeug aus Amerika", sagt sie. Jene Geister, in die sich Kinder landauf, landab seit einigen Jahren in der Nacht auf Allerheiligen zu verwandeln suchen, um mit schrecklicher Mimik an den Haustüren "Süßes oder Saueres" einzufordern, sie sind hier zu Hause.

Sie kennen sich aus im bayerischen, salzburgerischen und tirolerischen Land, hier kommen sie her, und vor einem Jahrhundert waberten sie zwischen Allerheiligen und Allerseelen noch überall um die nachts unbeleuchteten Bauernhöfe herum. Zumindest haben das die Menschen damals geglaubt. Ihren Ursprung hätten sie in nichts weniger als in jenen armen Seelen, deren Gegenwart die Menschen im Nebel der ersten, finsteren Novembernächte vermuteten. So ein Geist war schnell herausgehört aus dem Heulen des Windes, ein Irrlicht flugs geboren in abergläubischen Köpfen.

Den armen Seelen, die im Nebel der frühen Novembertage herumirrten, hat man früher schon Kerzen angezündet. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

"Auch wenn es nur die Laterne von einem Bauern war, der hinter ein paar Bäumen vorbeifuhr", sagt Angermaier - die eine diebische Freude daran hat, jenen oft aberwitzigen Horror-Vorstellungen nachzugehen und aufzudecken, was es damit auf sich hatte. Und während man die bösen Seelen fürchtete - es konnte ja eine darunter sein, die zur Verwandtschaft der ungeliebten Familie vom Nachbarshof gehörte, der im Leben schon der Sinn nicht nach was Rechtem gestanden hatte - zündete man den Guten ein Kerzerl an vor der eigenen Tür. Um ihnen heimzuleuchten auf den richtigen Weg ins Himmelreich.

Weil aber Bienenwachs teuer war und es sich der arme Bauer kaum leisten konnte, mussten so genannte Unschlittkerzen herhalten - aus Rindertalg und Blut gewonnener Wachsersatz, der furchtbar rußte und beim kleinsten Windhauch ausging. Also nahmen die Bauern Zuckerrüben, die vor dem Siegeszug des Mais' als Viehfutter dienten, höhlten sie aus, stellten die Kerzen hinein - und nahmen diesen Brauch schließlich mit in die Neue Welt über den großen Teich.

"Es waren ja meistens Menschen, die hier nichts hatten, die auswanderten nach Amerika", erzählt Angermaier, "und die armen Leute waren immer schon stärker verwurzelt im Glauben." Sie bewahrten ihn sich auch weitaus länger im Exil. Dass der Brauch hierzulande dagegen in Vergessenheit geriet, habe sehr viel mit den Erfahrungen aus den beiden Weltkriegen zu tun, erklärt sie weiter. "Die Menschen hatten so viel Leid gesehen, die wollten mit Tod und Trauer nichts mehr zu tun haben." Der Siegeszug des Lichts, das mittels Straßenbeleuchtung und Bewegungsmeldern Besuchern aus dem Jenseits die dunklen Winkel nahm, habe sein Übriges getan.

Bis die "Seelen-Kerzen" in ihren oft schauerlichen Gehäusen vor ein paar Jahren wieder bei uns auftauchten. Jetzt dienten ihnen Kürbisse als Behältnis, weil es Rüben drüben in Amerika halt nicht gab. Und sie kamen unter anderem Namen zurück in die Heimat - Halloween. "Aber es beruht alles auf dem alten Brauch." Und selbst die Sache mit den bei Eltern ungeliebten Süßigkeiten, die von den Sprösslingen säckeweise angeschleppt werden und nicht selten zu heftigen Verteilungskämpfen unter den Sammelgeistern führen, kommt nicht von ungefähr. Habe man doch früher für die Seelen auch süße Allerseelenzöpferl gebacken. "Ich schenke etwas Süßes und tue etwas Gutes. Und für jede gute Tat schafft es eine neue Seele eines verstorbenen Vorfahren, dem Fegefeuer zu entkommen."

Die Gestalten aus dem Jenseits haben sich in jeder Hinsicht den modernen Zeiten angepasst, sie kommen jetzt einen Tag früher. Schließlich hat der Allerseelentag für die meisten Katholiken seine Bedeutung verloren. Heute pilgern sie in Massen an Allerheiligen an die bunt geschmückten Gräber, Floristen und Grabschmuckhersteller reiben sich die Hände, ebenso wie die Kürbisverkäufer. Aber auch das Geschäft mit dem Gräberschmuck ist keine Erfindung der Neuzeit.

Früher gab es ganze Märkte, auf denen man tannengrüne Kränze kaufen konnte, wie der Allerseelenmarkt in der Münchner Au. Sandra Angermeier weiß auch davon zu berichten und nimmt dann bei ihren Vorträgen ihre kleinen und großen Zuhörer mit in jene dunklen Herbsttage der Vergangenheit, in denen sich draußen Gruseliges tat, sobald die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war.

© SZ vom 31.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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