Süddeutsche Zeitung

Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien:"Die sind alle tot"

In München leben viele Menschen mit familiären Verbindungen ins Erdbebengebiet. Entsprechend groß ist die Betroffenheit - und die Hilfsbereitschaft.

Von Heiner Effern, Francesca Polistina, Martina Scherf und Kerstin Vogel

Die Bilder von zerstörten Häusern, von Verletzten, Verstümmelten und Toten, die jetzt aus seiner Heimat eintreffen, sie erinnern Mohamad Alkhalaf an den Krieg. 2015 war der Journalist deshalb aus Syrien geflohen. Und jetzt hat er wieder liebe Menschen verloren: Hassan Farwati und seine Familie. Farwati war sein Erdkundelehrer gewesen. "Er hatte mir damals erklärt, wie es zu Erdbeben kommt und was die Gefahren sind." Später wurde der Lehrer zu seinem besten Freund. "Er hat während des Krieges fünf Jahre bei uns gewohnt, ich kenne seine ganze Familie", sagt Alkhalaf.

Alle paar Monate habe Farwati in den Jahren danach eine Nachricht aus Syrien nach München geschickt. Als sein Haus von Bomben des Assad-Regimes zerstört wurde, schrieb er: Gott sei Dank haben wir überlebt. Die Familie floh in die Nähe von Idlib. Dort starben der Lehrer, seine Frau, sein Sohn und seine Tochter jetzt bei dem Erdbeben. "Er sagte mir immer, Syrien sei zu einem Land für das Fest des Todes geworden."

Vielen Menschen in München geht es wie Alkhalaf. Am Münchner Flughafen machen sich am Dienstag viele Passagiere mit Familie und Freunden im Erdbebengebiet auf den Weg. Sie haben in letzter Minute einen Flug in die Türkei gebucht, wie dieser verzweifelte Mann in Terminal 1: "Die sind alle tot", sagt er über seine Familie, bevor er im Sicherheitsbereich verschwindet. Oder der andere mit der roten Jacke. Sein Bruder und seine Nichte sind beim Erdbeben gestorben, so viel weiß er schon, seine Mutter hat die Katastrophe überlebt.

Nun fliegt er mit seinem anderen Bruder nach Izmir und versucht, von dort aus seine Heimatstadt Antakya unweit der syrischen Grenze zu erreichen. Er hat viele Koffer gepackt: "Ich habe alles mitgenommen, was ich finden konnte", sagt er. Hosen, Jacken, Wasser. Es ist kalt in der Türkei, es schneit, seine Familie hat in Zelten Schutz gefunden, sonst haben sie nichts. "80 Prozent der Stadt sind zerstört", sagt er und kann die Tränen nicht unterdrücken.

In München wohnen viele Menschen mit Wurzeln in der Türkei, viele, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind. Einige Passagiere sind aus Nachbarländern wie der Schweiz angereist, um über München zu ihren Angehörigen zu kommen. Um zu helfen, Beistand zu leisten, um gemeinsam zu trauern, wie Keyfo Iscen aus Zürich. Ein Teil seiner Familie lebt in Kahramanmaraş, wo das Epizentrum des ersten schweren Bebens in der Nacht zum Montag lag. "Wir haben eine siebenköpfige Familie verloren", sagt er. Die Kinder, die Eltern, die Großeltern. Nun fliegt er mit anderen Familienangehörigen nach Izmir und von dort geht es mit einem Inlandsflug und einem Bus in die vom Erdbeben getroffene Region weiter.

Den Helferteams werden "Schadensgebiete" zugewiesen

Doch nicht nur Angehörige reisen so schnell wie möglich in die betroffenen Gebiete. Auch Retter und Helfer aus München und der Region machen sich auf den Weg. Bereits um 9.45 Uhr am Dienstagvormittag ist ein vierköpfiges Erkundungsteam der Moosburger Hilfsorganisation Navis e.V. vom Münchner Flughafen aus in die Türkei aufgebrochen. Am Dienstagsnachmittag befand sich das Team im Auto auf dem Weg von Istanbul in die schwer von dem Erdbeben betroffene Region um Adana, dort sollen sie gegen 21.30 Uhr eintreffen und sich bei der Einsatzleitung melden, wie Christian Pickal, der zum Team gehört, am Telefon schildert. "Wir haben momentan nur unser Gepäck dabei, damit wir schnell und mobil sein können."

Dem Team werde dann ein "Schadensgebiet" zugewiesen und die Helfer würden erkunden, was genau vor Ort gebraucht wird. "Erfahrungsgemäß wird es zu 99 Prozent um ein Feldhospital und die Wasseraufbereitung gehen", sagte der frühere Navis-Vorsitzende Wolfgang Wagner. Der Verein Navis ist auf genau diese Unterstützungsleistungen nach Naturkatastrophen im Ausland spezialisiert und werde dann die entsprechende Ausrüstung und weitere freiwillige Helfer auf den Weg schicken, wie Wagner ankündigt.

Dazu läuft die privat organisierte Hilfe aus München längst an. Die alevitische Gemeinde in München gehörte zu den ersten, die einen Lastwagen mit Sachspenden losschickten. Nicht den einzigen, momentan können er und seine Helfer nichts mehr annehmen. "Unsere Räume sind voll. So viele bringen Spenden, auch die Nachbarn", sagt der Vorsitzende Musa Celik. Er hofft, dass die Hilfe auch in den betroffenen Gebieten ankommt. "Wir wissen nicht, ob die Straßen befahrbar sind. Es gibt keine verlässlichen Nachrichten. Eine Katastrophe."

Am Mittag gab es ein Treffen im türkischen Generalkonsulat, an dem viele Vereine teilgenommen hätten. Hilfs-Lastwagen sollen Papiere für den Zoll erhalten, damit sie durchkommen. Nun werden Hallen für Sachspenden gesucht, der Bedarf und die Hilfsbereitschaft sind riesig. Es sei gut, dass die großen türkischen Organisationen und Vereine sich auch engagierten. "Wir können das gar nicht alleine stemmen", sagte Celik von der alevitischen Gemeinde. Die Stadt München wurde bereits am Nachmittag gebeten, Hallen für Sachspenden zur Verfügung zu stellen, das Kommunalreferat soll schnell reagieren, sagte Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD). "Es ist eine schreckliche humanitäre Katastrophe, und wir werden unterstützen, wo wir können."

Das katholische Hilfswerk Missio in München unterstützt seine Projektpartner in Syrien. "Im Moment haben wir die Türen unseres Klosters für Hunderte von Familien geöffnet, die ihre Häuser verloren haben, und es werden stündlich mehr", berichtet Bruder Georges Sabe von der Kongregation der Blauen Maristen in Aleppo. Ebenso wie Franziskaner und Salesianer nehmen er und seine Mitbrüder obdachlos gewordene ältere Menschen, Kinder und Frauen auf, die bei kalten Temperaturen dringend Nahrung, Kleidung, Medikamente und eine warme Unterkunft benötigen. "Die Situation ist tragisch, wir können die Schäden nicht abschätzen und wissen nicht, wie viele Menschen getötet wurden." Dazu stellt Missio München 50 000 Euro Soforthilfe bereit. Dafür werden Matratzen, Kissen und Decken bereitgestellt, Lebensmittel für Familien und Medikamente für Kranke gekauft sowie Heizgeräte organisiert.

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