Epileptiker vor Gericht:Ärzte tragen eine Mitschuld

Eine Epileptikerin beurteilt das Münchner Gerichtsurteil völlig anders

"Bewährungsstrafe für Epileptiker" vom 4. März:

Meines Erachtens ist der Student vollkommen schuldlos an diesem entsetzlichen Unfall. Die Ärzte hätten ihn auf keinen Fall gehen lassen dürfen - er hätte auch selbst umkommen können! Ich selbst bin seit 20 Jahren Epileptikerin und kenne die verschiedenen Spielarten dieser Krankheit vom Erbrechen bis zum "grand mal" (schwerer Anfall). Offensichtlich hatte der junge Mann an diesem Tag ja schon einen großen Anfall gehabt, sonst wäre er nicht im Krankenhaus gelandet. Wenn so etwas aber passiert ist, gehört der Patient für den Rest des Tages aus dem Verkehr gezogen. Für die Umwelt ist man zwar wieder bei sich, aber was sich im Gehirn danach abspielt, ist oft das reinste Chaos. Selbst registriert man das aber komischerweise nicht so ganz. Der junge Mann wurde nicht von seinem Charakter dirigiert, sondern von seinem Gehirn, das ihn geheißen hat, mit der Tätigkeit vor dem Anfall fortzufahren, nämlich Auto zu fahren. Der Verteidiger hätte zumindest ein kompetentes Gutachten für die Zeit nach dem ersten Anfall anfordern müssen.

Ärzte, die nicht selbst Epilepsie haben, wissen oft nicht damit umzugehen. Was sich im Gehirn des Kranken abspielt, können sie einfach nicht nachvollziehen. Es kann absolut sein, dass der Student überhaupt nicht begriffen hat, was man ihm gesagt hat. Ich brauche nach einem "grand mal" auch oft ein paar Stunden, bis ich wieder alles einzuordnen weiß. Auch ich bin mit Tabletten eingestellt, aber plötzliche Ausreißer gibt es immer wieder. Ich kann nur jedem Arzt raten, sich diese Tragik, die dort aus Unwissenheit der Betreuer geschehen ist, ein für alle mal zu Herzen zu nehmen.

In den Krankenhäusern, in denen ich gelandet bin nach einem Anfall, beispielsweise im Ebersberger, haben mich alle gnadenlos da behalten, und wenn ich noch so gefleht habe, man möge mich nach Hause lassen.

Als ich mit meinem Mann vor 22 Jahren in Südafrika zu Besuch war, hatte ich einen schweren Anfall. Als ich wieder zu mir kam, war mein Mann inzwischen am Herzinfarkt gestorben. In dem Krankenhaus, wo mein toter Mann noch eingeliefert wurde, landete auch ich, und die Ärzte dort haben sich geweigert, mich zu entlassen: Sie wüssten nicht, was ich vorhätte. Ein Epilepsie-Patient sei noch benommen, er sei in der Zeit nach einem Anfall einfach noch unberechenbar, denn das Gehirn hat ein schweres Gewitter überstehen müssen. Angelika Kratzer, Ebersberg

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