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Entführungsopfer Richard Oetker:"Der Mensch kann mehr aushalten, als man denkt"

Wie überlebt man mit gebrochenen Knochen in einer winzigen Kiste? Richard Oetker wäre 1976 beinahe gestorben, heute erzählt er vom Überleben.

Von Gerhard Fischer

Dieter Zlof hat Richard Oetker entführt. Er hat den 1,94 Meter großen Mann in eine 1,44 Meter lange Kiste gezwängt und 21 Millionen Mark Lösegeld erpresst. Oetker wäre an den Folgen der Entführung fast gestorben. Viel später, nach Verbüßung seiner Haft, hatte Zlof eine Würstchenbude. Oetker überlegte mit einem befreundeten Polizisten, ob er zu dieser Bude fahren und Würste essen sollte, und am Ende wollte er sagen: "Bezahlt ist schon."

Es ist schön zu sehen, wie dieser Mann sein traumatisches Erlebnis gut verarbeitet hat; mit so viel Humor. Richard Oetker, heute 64, sitzt im Pavillon des Seehauses und redet manchmal nachdenklich, selten wütend, aber oft Mut machend über seine Entführung im Jahr 1976. "Der Mensch kann mehr aushalten, als man denkt", sagt Oetker.

Mit Humor gegen die Alpträume

Er habe keine Alpträume und keine Ängste - einen Psychotherapeuten, den ihm seine Ärzte empfahlen, einen Dr. Angstwurm, brauchte er nach zwei Stunden nicht mehr. Dass er alles gut überstanden habe, verdanke er seinem "glücklichen Naturell", seinem Humor und seinem Optimismus, seiner Familie, seinen Freunden und seiner Firma. Nur körperlich hat er Schaden genommen. Er hatte sich damals viele Brüche zugezogen und kann bis heute nicht gut gehen.

Dezember 1976. Ganz Deutschland spricht über die sogenannte Oetker-Entführung. Richard Oetker, Sohn des Unternehmers Rudolf-August Oetker, war damals zwei Tage in der Gewalt eines Entführers; in der Gewalt von Dieter Zlof, wie sich später herausstellte. Im Seehaus wird zunächst eine DVD gezeigt, die das Bayerische Kriminalamt zusammengestellt hat. Man sieht ein München der Siebzigerjahre mit Kadett und Käfer, Männer mit Koteletten und Frauen in Miniröcken. Man sieht, wie Zlof geschnappt wird.

Und man sieht Richard Oetker, einen stattlichen Studenten, wie er auf Krücken in den Gerichtssaal humpelt. Der Film wirkt durch seine Bilder. Und er liefert Fakten. Aber das Gefühl zu diesen Bildern liefert Richard Oetker nach dem Film, in seinem Vortrag "Der Weg aus der Opferrolle - Erfahrungsbericht meiner Entführung". Manche Passagen erzählt er minutiös. Das erzeugt Spannung. Und es macht aus der Vergangenheit eine Gegenwart.

Der Blick in den Lauf einer Pistole

Es ist der 14. Dezember 1976, abends. Der damals 25-jährige Oetker ist in Weihenstephan. Als der Student ein Seminar verlässt und zu seinem Auto geht, um nach Hause zu fahren zu seiner Frau, die er kurz zuvor geheiratet hat, blickt er plötzlich in den Lauf einer Pistole. Ein maskierter Mann zwingt ihn, in einen VW-Bus zu steigen. Dort muss er in die Kiste klettern. Der Entführer ist höflich, er spricht Oetker mit "Sie" an.

Richard Oetker sagt im Seehaus, er kannte das Stockholm-Syndrom - die psychologische Annäherung zwischen Täter und Opfer. "Ich versuchte das zu forcieren", erzählt er, "ich sagte, er könne mich duzen." Der Entführer habe geantwortet: "Ja, Richard, jetzt willst du wohl noch meinen Namen wissen."

Oetker blickt ins Publikum. Dann sagt er: "Ich hatte meinen Humor nicht verloren und sagte: Ja, natürlich."

Der Entführer sagt seinen Namen natürlich nicht. Oetker solle sich einen einfallen lassen. Richard Oetker wählt einen Namen, der später berühmt werden sollte: Checker. "Ich wollte etwas Positives", sagt Oetker, "und Checker war der Spitzname eines Freundes".

Schreie vor Schmerz

So weit, so freundlich. Die Entführung wurde eine Qual, da war die Ungewissheit, da war die enge Kiste, in der Oetker bloß in embryonaler Stellung liegen konnte, an Händen und Füßen fixiert mit Handschellen; und da war ein Stromschlag. "Normalerweise schlagen alle Gliedmaßen aus, wenn man einen Stromschlag bekommt, weil die Muskeln sich zusammenziehen", erklärt Oetker. Aber sein Körper war gefesselt, seine Gliedmaßen konnten nicht ausschlagen. Deshalb brach er sich mit der eigenen Muskelkraft zwei Brustwirbel und die Hüfte. Er schrie vor Schmerzen.

Der Entführer gab Oetker Schmerzmittel und ein Stück Schaumstoff, um das Liegen zu erleichtern. Er trug immer eine Maske. "Es war eine Faschingsmaske, eine Schweinsmaske", erzählt Oetker.

Nach zwei Tagen kam Richard Oetker frei, die Polizei fand ihn - bei minus 14 Grad - auf dem Beifahrersitz eines Autos im Kreuzlinger Forst. Die Familie hatte dem Entführer das Lösegeld übergeben. Noch wusste man nicht, wer der Täter war. Und noch wusste man nicht, ob Oetker überleben würde. "Stirbt Richard Oetker?", titelte ein Boulevardblatt. "Die Lunge war das größte Problem", sagt er. "Da ich in der engen Kiste nicht richtig durchatmen konnte, gab die Lunge einen Teil ihrer Funktion auf - ich wäre fast erstickt."

Die Ärzte konnten auch die Brüche nicht operieren, weil sie Oetker wegen der maladen Lunge nicht narkotisieren konnten. Um ihn in einen Streckverband zu kriegen, mussten sie beide Knie durchbohren - ohne Narkose. Wieder sagt Oetker im Seehaus: "Der Mensch hält viel aus." Diesmal sagt er es in eine staunende Stille hinein.

Nach dem Urteil gegen Zlof wird Oetker angefeindet

Nach zwei Jahren führen registrierte Geldscheine auf die Spur des Entführers. Dieter Zlof wird verhaftet. Er leugnet. Oetker hört die Stimme Zlofs im Prozess und ist sich sicher, "dass er der Checker ist". Am 9. Juni 1980 wird Zlof zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Manche Medien zweifeln an seiner Schuld: Das Lösegeld war nie aufgetaucht, es gab keine Beweise, bloß Indizien.

Oetker wird angefeindet, weil ein vielleicht "unschuldiger Familienvater" ins Gefängnis muss. Kurz vor der Haftentlassung ist Zlof bei "Schreinemakers" im Fernsehen und beteuert seine Unschuld. "Ich verstehe nicht, warum man ihm diese Plattform gab", sagt Richard Oetker. Später wird ihm angeboten, er solle in einer Sendung sitzen - und Zlof als Überraschungsgast dazu kommen. Oetker schüttelt den Kopf. Damals und heute.

1994 wird Zlof entlassen. Als er in London das Lösegeld waschen will, greift die Polizei zu. Dieter Zlof wird zu zwei Jahren Gefängnis wegen Geldwäsche verurteilt. Oetker ist erleichtert. Endlich ist für jeden klar: Zlof war es.

Keine Rache, aber auch keine Vergebung

Ende der Geschichte? So etwas ist nie vorbei. Auch wenn es Oetker gut geht: Er bleibt "der Entführte". Hält Vorträge, beantwortet Fragen. Die Leute im Seehaus wollen zum Beispiel wissen, ob er Zlof hasse. "Ich habe bis heute noch keinen Menschen gehasst", sagt Oetker, "und ich habe auch kein Gefühl der Rache". Aber vergeben will er Dieter Zlof nicht.

Richard Oetker ist heute Vorsitzender der Stiftung des Weißen Rings, einer Organisation, die sich um Opfer von Verbrechen kümmert. Oetker bittet die Anwesenden um Spenden für den Weißen Ring, und man mag hoffen, dass viel Geld zusammen kommt, zumal auf der Gästeliste keine Armen stehen, sondern Anwälte, Ärzte und Adelige. Es sind exakt 27 Namen mit Doktortitel, fünf "Vons" und zwei "Zus".

Zur Würstchenbude von Zlof ist Richard Oetker übrigens doch nicht gefahren.

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SZ vom 05.11.2015/bica
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