Musikerkarrieren:Der Elton John vom Ammersee

Musikerkarrieren: Charlie Glass musiziert, komponiert und arrangiert wie ein Wilder, zahlreiche CDs zeugen davon.

Charlie Glass musiziert, komponiert und arrangiert wie ein Wilder, zahlreiche CDs zeugen davon.

(Foto: Nila Thiel)

Charlie Glass ist ein extrem vielseitiger Vollblutmusiker, der gerne auch mal Sparkassensongs und Kinderlieder schreibt und spielt. Doch jetzt nimmt er Abschied vom Schnuller.

Von Franz Kotteder

"Mein größter Erfolg war ,Mach's gut, lieber Schnuller'", sagt Charlie Glass und schmunzelt, "da möchte man dann halt doch mal zeigen, was man sonst noch kann." Acht Millionen Mal ist das Kinderlied bei Streaming-Diensten heruntergeladen worden, das kam gleich nach seinen Weihnachtssongs für die Kleinen. Charlie Glass stellt das ganz nüchtern fest. Er könnte das schließlich auch ein bisschen wehmütig erzählen, so wie der Konsul und Klebstofffabrikant Heinrich Haffenloher in Helmut Dietls Serie Kir Royal, der ein Leben lang nur "in Kleber macht" und sich irgendwie verkannt fühlt. Nein, Charlie Glass fühlt sich jetzt, mit 55, keineswegs verkannt als Künstler. Er ist durchaus stolz auf seinen Schnuller-Song, übrigens eine nette Klavierballade in Gestalt eines Abschiedslieds. Und auch auf die unzähligen anderen Kinderlieder, die er geschrieben, aufgenommen und produziert hat.

Sein neues Album "Zeit" wird solche Erfolge wohl nicht feiern können. Es ist sehr ernsthafte Kost, für Erwachsene, Glass hat es in den vergangenen Corona-Jahren geschrieben und produziert. Am 20. Januar kommt es nun im Netz auf den Markt, eine Woche später kann man auch die CD kaufen. Ein gewisses Interesse dafür ist vorhanden, es gab schon 150 000 Aufrufe bei Youtube, Interviews in der Abendschau und im Radio. Glass ist zuversichtlich.

Es ist schon Abend, als er das am großen Esstisch in seinem Haus in Fischen am Ammersee, einem Ortsteil von Pähl, erzählt. Charlie Glass hat draußen auf der Terrasse gerade prächtige T-Bone-Steaks gegrillt, seine Frau Andrea hat als Vorspeise Garnelen in der Pfanne gebraten und im Rohr Ofengemüse gebacken. Manchmal machen die beiden das auch auf der anderen Seite des Hauses. Dort bewirtet Frau Glass in ihrem eigens eingerichteten Bistro mit dem hübschen Namen Glaserl Gäste, die meistens aus dem Dorf kommen. Aber nur freitagabends, oder zu besonderen Ereignissen. "An Silvester ging's bis halb sieben in der Früh", erzählt Charlie Glass. Natürlich hat er sich da auch an den Flügel rechts im Raum gesetzt und Klavier gespielt. Das ist schließlich sein Job, und noch viel mehr: Eigentlich ist das sein Leben.

Die Steaks stammen von einer blau-belgischen Kuh, einer besonders muskulösen Rinderrasse, und sie sind selbstverständlich "dry-aged", also besonders edel gereift. Charlies und Andreas Sohn Noah hat die Kuh selbst geschlachtet, er absolviert gerade eine Metzgerlehre beim Dorfmetzger ein paar Hundert Meter vom Elternhaus entfernt. "Musik macht er auch", sagt der Vater, "aber er findet, das macht man nur zur Gaudi. Ein richtiger Beruf sei das eigentlich nicht, meint er." Der Vater grinst.

Musikerkarrieren: Klavierspielen ist mehr als sein Job, es ist sein Leben.

Klavierspielen ist mehr als sein Job, es ist sein Leben.

(Foto: Nila Thiel)

Er weiß ja, dass Musik in Wirklichkeit viel mehr ist. Ein knallharter Beruf, mit dem man sich bei einigem Glück sogar ein schönes Haus am See bauen kann, ganz nach eigenen Vorstellungen und Entwürfen, mit einem schmiedeeisernen, vergoldeten Notenschlüssel im Gartentor. Aber natürlich auch eine Riesen-Gaudi, die ein ganzes Leben ausfüllen kann. Das hat Charlie Glass seinem Besucher den Nachmittag über gezeigt. Oben im Wohnzimmer am weißen Flügel, unten im Keller im geräumigen Tonstudio mit dem Sternenhimmel an der Decke.

Drüben im Bistro hat er sich zur Begrüßung gleich an den Flügel gesetzt und ein paar Lieder aus dem neuen Album gespielt. Es sind poppige, treibende Klaviernummern mit nachdenklichen deutschen Texten; nur einmal rutscht eine bayerische Formulierung hinein: ",A bisserl a Glück" kann man ned auf Hochdeutsch ausdrücken", sagt Glass. Die Stücke heißen "Jenseits der Zeit", "Glück" oder "Kind der Erde" und haben keine Scheu vor Pathos.

Manches erinnert an Konstantin Wecker und an Udo Jürgens, aber auch an Schlager, auch musikalisch. Vor allem aber hört man Elton John heraus, den Glass nach wie vor bewundert, gelegentlich auch Jim Steinman, das geniale musikalische Mastermind hinter den Erfolgen von Meat Loaf. Zum Beispiel, wenn da mittendrin mal ein etwas ungewohnter Akkord die Harmonie zu stören droht, sich dann überraschend auflöst und wieder einfügt ins Songgeschehen. Oder, wie es im zweiten Lied "Glück" auf der Platte heißt: "Ein schräger Ton braucht den Akkord."

Glass weiß eben, wie man eine Nummer interessant macht, ohne den Hörer zu verunsichern.

Erstmal sollte der Bub was Solides machen

Inspiration ist das eine, Transpiration ist aber oft noch viel wichtiger. Wer wüsste das besser als Glass, der 1967 als Karl Jürgen Glas in München geboren wurde? Mit sieben begann er, Klavier zu lernen; seine Eltern waren beide Musiker. Besonders die Mama war gnadenlos: Jeden Tag wurde eine halbe Stunde Klavier geübt, sie hatte selbst Geige und Klavier studiert. Aber der Bub sollte trotzdem erst einmal etwas Solides werden, zur Sicherheit. Zahnarzt hatte sich die Mutter vorgestellt. Es sollte dann eine Lehre zum Kaminkehrer werden. "Wenn du einen eigenen Bezirk hast", hatte der Meister gesagt, "bist du ein gemachter Mann!"

Aber er wollte nicht "gemacht" sein, erzählt Glass, ein Graus sei ihm das gewesen, er wollte selber "machen". Und so ging er mit 18 Jahren zum Arabella-Hotel und bewarb sich direkt beim bekannten und steinreichen Bauunternehmer Josef Schörghuber als Barpianist. Ein Jahr lang spielte er von sieben Uhr abends bis ein Uhr nachts Klavier, sechs Tage die Woche. Auf dem neuen Album gibt es einen Song, der dran erinnert. "Hannelore" heißt er lustigerweise, er beschreibt ein alterndes Callgirl dieses Namens, das in der Hotelbar immer auf Kundschaft wartete und den jungen Barpianisten durch ihre natürliche Würde beeindruckte.

Vom Klavierspielen konnte Charlie schon damals nicht genug kriegen. Manchmal ging's um eins sogar noch rüber ins Hilton am Tucherpark, wo er weiterspielte. "Hello, Mister Piano Man!", grüßte ihn Freddie Mercury dort einmal. Mercury kam immer wieder in die Bar dort, seitdem er 1979 in München mit Queen die LP "The Game" aufgenommen hatte. Den Hit "Crazy Little Thing Called Love" soll er sich in der Badewanne der Präsidentensuite ausgedacht haben. Nur ein paar Minuten habe das gedauert, heißt es. Der Weltstar lebte einige Jahre weitgehend unbemerkt in München und hatte Glass zwangsläufig öfter in der Bar spielen sehen. "Leider habe ich kein Foto mit ihm gemacht", sagt Glass, "Selfies waren damals noch nicht so üblich." Würde jetzt gut zur Galerie mit den vielen Starfotos passen, die in Glass' Haus vom Erdgeschoss in den ersten Stock führt.

Das war's dann mit dem Kaminkehren

Jedenfalls war's das dann mit dem Kaminkehren. Er war eben ein Vollblutmusiker und ungeheuer fleißig; anders als viele andere war er sich auch für nichts zu schade. Im Warteraum vor seinem Tonstudio im Keller künden zahlreiche CD-Cover an den Wänden davon. Es gab da mal eine Zeit, wo jede noch so kleine Zweigbank ihren eigenen Image-Song wollte. Charlie Glass hat eine ganze Latte davon geschrieben. "We Will Love Success", für eine Sparkasse, "We Are Number One" für die Südfinanz, oder auch - recht seriös und schön Schriftdeutsch daherkommend - "Tradition hat Zukunft" für die Kreissparkasse München-Starnberg. Doch das waren Nebenjobs. Seit Mitte der Achtzigerjahre musizierte, komponierte, arrangierte Charlie Glass wie ein Wilder, bald schon im eigenen Tonstudio. Er arbeitete für die Jacob Sisters, für Udo Jürgens, für Wolfgang Fierek, Drafi Deutscher, Roberto Blanco und für Rudi Carrell. Sein größter Hit war "Fools Cry" für den Euro-Disco-Star Fancy, er erreichte 1988 Platz 3 der deutschen Hitparade. Für die letzte Zaubershow von Siegfried & Roy in Las Vegas stellte er die Musik zusammen. Es hätte weitergehen sollen, aber dann kam 2003 der Unfall mit dem Tiger, bei dem Roy Horn schwer verletzt wurde und der die Geschichte des Duos jäh beendete.

Musikerkarrieren: Das eigene Tonstudio im Haus: Charlie Glass am Mischpult. Das Käppi übrigens ist wichtig, so kennen ihn die Leute.

Das eigene Tonstudio im Haus: Charlie Glass am Mischpult. Das Käppi übrigens ist wichtig, so kennen ihn die Leute.

(Foto: Nila Thiel)

Freilich, diese Musikerkarriere war noch nichts gegen die Sache mit den Kinderliedern. Eigentlich war sein Studio- und Produzentenkollege Alex Prechtl 2011 auf die Idee gekommen. "Sing doch mal ein Kinderlied", hatte er zu Glass gesagt, "und zwar so, wie du es für deine beiden Buben machen würdest." Er tat's, und das ging ganz locker. Im Nu hatten sie eine ganze Menge Kinderlieder beisammen, nahmen sie auf, vertrieben sie erst online. Sie waren sehr erfolgreich damit. Die CDs lagen bald als Quengelware bei Aldi und Lidl an der Kasse und gingen noch viel besser weg als warme Semmeln. Bald kam Sony Music daher und nahm Charlie Glass mit seinen Kinderliedern unter Vertrag. Mehrfach bekam er Gold für seine Kinder-CDs. Sie haben wohl den größten Anteil daran, dass er 2022 von der Gema einen Platin Award für 33 Millionen verkaufte Einheiten bekam.

Ein weiteres Standbein waren und sind die Auftritte als Showman und Klavierentertainer bei großen Events, von Firmen oder Institutionen. Er spielt dann Klassiker aus Rock, Pop und Jazz und weiß, dass man dafür eine Marke aus sich machen muss. Da achtet er schon drauf. Fürs Foto setzt er das Käppi auf, das ist wichtig, so kennen ihn die Leute. Wenn er dann am Flügel sitzt, kann man ihn sich auch gut vorstellen am Steuer eines 57er Chevys, wie er gerade die Route 66 hinunterfährt, oder den Mulholland Drive. Das kommt gut an, Glass wurde viel gebucht.

Schuhbeck frotzelt: "Gibt's koan anderen, der a Musi macht?"

Alfons Schuhbeck, der (derzeit noch) ebenfalls in der Gegend wohnt, hat schon mal gefrotzelt, wenn sie sich wieder bei einer Großveranstaltung getroffen haben. Kam oft vor, bis Corona kam. Glass war für das musikalische Entertainment verantwortlich, Schuhbeck für das Catering. "Gibt's denn do überhaupts koan anderen, der a Musi macht?", hat der Starkoch mal spöttisch gefragt. Charlie Glass wurmt es heute noch, dass ihm da nicht gleich die Gegenfrage eingefallen ist: "Gibt's denn überhaupts koan anderen, der do kocht?"

Aber auch das ist Charlie Glass. Ein anderer hätte vielleicht nicht erzählt, dass ihn das wurmt, sondern hätte die eigene, schlagfertige Antwort einfach mal so behauptet. Kann ja heute keiner mehr nachweisen, und wenn man's lange genug erzählt, glaubt man es eh irgendwann selbst.

Mit den 200 Auftritten pro Jahr war 2020 natürlich erst einmal Schluss. Corona zog abrupt die Bremse an. Charlie Glass hatte plötzlich Zeit, viel Zeit. Da reifte in ihm der Gedanke, sich neu zu erfinden, als Singer/Songwriter am Piano. "Meine Frau hat sicher einiges mit mir mitgemacht", erzählt er, "ich bin oft nachts aufgestanden, weil mir ein Text eingefallen ist oder eine Melodie." Es floss so richtig, dass hat ihn selbst ein bisschen überrascht, und eigentlich hätte er schon wieder Lieder für ein zweites Album beisammen.

Aber jetzt geht es erst einmal darum, die "Zeit"-CD zu promoten. Und die Auftritte zu forcieren. Freitagabends spielt er wieder regelmäßig von 20 Uhr an in der großen Halle des Hilton Airport Hotels, draußen am Flughafen. Am 27. April steht dann noch ein Konzert auf der Groundlift-Bühne in der Alten Brauerei von Stegen an, das ist ihm ein Herzensanliegen. Und auch die Entertainment-Auftritte bei Großveranstaltungen gibt es langsam wieder. Vielleicht jetzt auch verstärkt mit eigenen Sachen, nicht nur mit Popmusikhistorie? Der Abschied vom lieben Schnuller, er ist dann wohl doch endgültiger als gedacht.

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