Die Bedeutung von Zahlen in der Musik ist fast so alt wie die Musik selbst. Pythagoras errechnete, dass die Summe von zwölf reinen Quinten nicht identisch mit der Summe von sieben Oktaven ist. Aus gleichberechtigten Tönen erdachte Arnold Schönberg seine Zwölftonmusik. Aus drei Harmonien in zwölf Takten entwickelt der Blues seine ganze Kraft. Und nicht umsonst gehörte die Musik im einstigen Fächerkanon der Sieben freien Künste zu den mathematischen Fächern.
Zahlensymbolik spielt auch im Oratorium „Creatio“ des Münchner Komponisten Enjott Schneider, den viele vor allem als Filmkomponisten kennen, eine große Rolle. Die Uraufführung findet am 22. Februar um 19 Uhr in St. Matthäus statt. Was der Münchner Motettenchor unter der Leitung von Benedikt Haag und Enjott Schneider anlässlich des 65. Chorjubiläums (Schneider wird in diesem Jahr zudem 75) geplant haben, ist aber weit mehr als musikalische Mathematik und könnte als Werkidee kaum größer gefasst sein. „Creatio“ geht der Frage aller Fragen nach: der nach dem Ursprung, der Schöpfung. Und bietet dabei nicht nur eine Zugangsmöglichkeit, sondern versucht gleich mehrere mythologische Traditionen zu vereinen: christliche, ägyptische, fernöstliche und weitere Erzählstränge. Mehrere religiöse Schöpfungsberichte in einem Textbuch zusammenzubringen und obendrein mit der naturwissenschaftlichen Sicht zu kombinieren, ist das Ansinnen. Mehr geht nicht innerhalb eines Werks.
Im Zentrum stehen die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft, die, wie Schneider betont, durch das fünfte Element, die Liebe, verbunden sind. Diese Liebe ist in Schneiders Werkidee weder abstrakt noch romantisch, sondern geradezu naturwissenschaftlich elementar. Schneider definiert sie als „das allverbindende Quantenfeld“ und nennt dies „die Grundidee seines Oratoriums“.
Mit fünf Elementen also kommt die Zahlensymbolik in die Komposition. Zwölf ist die Anzahl der Einzelsätze – und die heilige Zahl zwölf spiegelt sich noch auf andere Weise wider: Die Instrumentalbesetzung besteht aus drei Quartetten, drei mal vier. Für das Projekt konnten das Wen-Sinn Yang Celloquartett, das Arcis Saxophon Quartett und das Schlagzeugquartett Stefan Blum gewonnen werden. Hinzu treten Sopranistin Julia Sophie Wagner, die mit ihrer solistischen Stimme der Liebe Klang verleiht, als Sprecher Schauspieler Miroslav Nemec – und natürlich der Motettenchor, der in „Creatio“ zusammen mit der Orgel (Martin Wiedenhofer) für Schneider „die große Wir-Gemeinschaft“ repräsentiert. Wenn der Komponist dieser Besetzung attestiert, mit ihr könne er musikalisch „alles machen“, glaubt man das sofort, denn welch eine Fülle an kombinierten Ausdrucksmöglichkeiten zeichnet sich da ab. Eine Lichtinstallation fügt ein weiteres künstlerisches Medium hinzu.
Aber entsteht bei all dieser Komplexität nicht ziemlich verkopfte Musik? „Creatio“ entgeht dieser Gefahr gekonnt. Einen kleinen Einblick haben Benedikt Haag und der Motettenchor schon gewährt, in ihrer musikalischen Andacht. „Wasser“ war das Abendthema, und so wurde der Werkabschnitt „Wasser des Lebens“ aus „Creatio“ live vorab erprobt: Man muss gewissermaßen von einer mehrfach reduzierten Teiluraufführung sprechen. Viele Komponenten des Gesamtwerks sind noch ausgeblendet. Doch allein das, was Chor und Orgel an Klang erschaffen, ist ungemein lebendig und stark.
Wie wichtig in „Creatio“ der Text ist, merkt man an der Bedeutung, die der Deklamation beigemessen wird, vom klar artikulierten Gesang bis zu gesprochenen Passagen. Doch die Botschaft vermittelt sich nicht nur inhaltlich, sondern ebenso durch geschickte Klangassoziation. Durch lichte Glockenklänge, durch rein geräuschhaft gehauchte Chorpassagen, durch eine Orgelbegleitung, die mal interstellarhaft schwebt, dann wieder zur fasslichen Klangmalerei einer glitzernden, bewegten Wasseroberfläche wird. Diese Eindrücke auf das Gesamtwerk übertragen, versprechen ein großes Erlebnis.
„Creatio“, Uraufführung am 22. Februar, 19 Uhr, St. Matthäus