Jubiläumsprogramm:Teilen und herrschen

Rebecca Trescher

Rebecca Trescher spielt mit ihrem Tentett am 4. November in der "Unterfahrt".

(Foto: Cris Civitillo)

Das weltweit bedeutende Münchner Jazz-Label Enja feiert seine 50-jährige wechselvolle Geschichte mit einer Ausstellung und einer Konzertreihe.

Von Oliver Hochkeppel, München

Sage keiner, die 68er-Jahre hätten im konservativen München nichts bewirkt. Immerhin wurde die Stadt in dieser Zeit zur "heimlichen Hauptstadt des progressiven Jazz", wie Matthias Winckelmann gerne sagt. Er muss es wissen, gehört er doch zur beachtlichen Zahl nationaler wie internationaler Größen, die sich damals in München - nicht zuletzt wegen des international Furore machenden Jazzclubs "Domicile" - sammelten und niederließen, von Klaus Doldinger bis Dusko Goykovich, von Mal Waldron bis Larry Porter, von Siggi Loch bis Manfred Eicher. Winckelmann war schon ein paar Jahre früher in München gelandet, zum Volkswirtschafts- und Soziologiestudium. In der Entwicklungshilfe wollte er dann arbeiten, aber die Jazz-Leidenschaft erwies sich als stärker. Als Sohn eines Frankfurter Industriellen hatte er die berühmte Odenwald-Schule besucht und war dort früh mit Jazz in Berührung gekommen. In München hatte er dann einen anderen, ebenfalls zugereisten Jazz-Verrückten kennengelernt, den sieben Jahre älteren, aus Aachen stammenden Schneider Horst Weber, der bereits als Konzertveranstalter Erfahrungen gesammelt hatte. Beide sahen die Schwierigkeiten, überhaupt an die geliebte Musik zu kommen, "es gab ja kaum Labels außer den großen amerikanischen". Also beschlossen sie, selbst eines zu gründen.

Jubiläumsprogramm: Matthias Winckelmann in seinen Gründerjahren.

Matthias Winckelmann in seinen Gründerjahren.

(Foto: Enja)

Der Name entstand am Küchentisch und sollte weiblich klingen

50 Jahre ist es nun her, dass man am Küchentisch über einem weltweit gut klingenden, einprägsamen Namen mit weiblicher Endung grübelte: "Enja" wurde so geboren. Die Definition "European New Jazz" kam erst später dazu. Und passte im Grunde schlecht, da man in den ersten Jahren überwiegend mit amerikanischen Musikern arbeitete, die Winckelmann im Domicile (und später auf vielen New-York-Reisen) rekrutierte. Wie schon beim ersten Album: "Black Glory", ein Live-Mitschnitt vom Mal Waldron Trio aus dem "Domicile". Abenteuerlich, wie Winckelmann das Label-Debüt ins Laufen brachte. "Ich hatte mir 20 000 Mark Startkapital von meinem Vater geliehen - bei der Deutschen Bank haben sie laut gelacht, als ich einen Kredit wollte -, die waren nach der Waldron-Produktion so gut wie weg. Für die letzten 300 Mark haben wir die Platte an sämtliche deutschen Plattengeschäfte geschickt - die Reaktion war gleich null. Da haben wir gemerkt, wir haben ein Problem." Also setzte sich Winckelmann mit 200 LPs im Kofferraum in seinen alten VW und klapperte die Plattengeschäfte persönlich ab. Nach drei Wochen hatte er alles verkauft - und die entscheidenden Kontakte hergestellt: "Ich lernte die ganzen Jazzeinkäufer kennen, das waren interessierte und motivierte Leute."

Jubiläumsprogramm: "Black Glory" vom Mal Waldron Trio, live im Jazzclub "Domicile" aufgenommen, war 1971 das erste Enja-Album

"Black Glory" vom Mal Waldron Trio, live im Jazzclub "Domicile" aufgenommen, war 1971 das erste Enja-Album

(Foto: Enja)

Die konnten Winckelmann und Weber bald gut versorgen, dank ihres Gespürs. US-Stars wie Bennie Wallace, Tommy Flanagan, Chet Baker, Charles Mingus oder John Scofield verschafften Enja schnell Renommee. Und 1974 kam mit dem südafrikanischen Pianisten Dollar Brand, der später zu Abdullah Ibrahim wurde, eine auch finanziell tragende Säule (so wie später Rabih Abou Khalil) des Programms dazu. Weber und Winckelmann einte außerdem auch die Faszination für Japan. Darum war schon das zweite Enja-Album eine Live-Aufnahme von Albert Mangelsdorff aus Tokio; darum gehörte der japanische Pianist Yosuke Yamashita zu den frühen Enja-Attraktionen, und seine Kollegin Aki Takase zu den späteren; darum hatte man früher als andere lukrative Kontakte nach Asien.

Allerdings waren sich die beiden nach 15 Jahren nicht mehr über die Ausrichtung einig. Weber wollte die Produktion auf wenige, besondere Produktionen beschränken, der jüngere und energiegeladene Winckelmann viel mehr veröffentlichen, auch auf den Sublabels Blues Beacon für Blues und Marsyas für Klassik. 1986 trennte man sich, ohne dass einer die Namensrechte aufgeben wollte. So kam es zum im Musikbusiness einzigartigen Fall zweier namensgleicher, aber rechtlich getrennter Label. Weber zog sich bald darauf ganz zurück und übergab die Geschäftsleitung an den 1990 als Labelmanager geholten Posaunisten Werner Aldinger. Der brachte Enja Weber samt seinem eigenen neuen Unterlabel Yellowbird räumlich wieder mit Enja Winckelmann in der Frundsbergstraße zusammen. Und wurde mit seinem ausgeprägtem Gespür für die wichtigen Entwicklungen und prägenden jungen Musiker im sich immer weiter auffächernden Jazz-Genre für alle Teile von Enja nach und nach der wichtigste Mann. Zuletzt hat ihm der gesundheitlich immer angeschlagenere, heuer 80 gewordene Winckelmann auch seinen Be- und Vertrieb übergeben und sich aufs Produzieren beschränkt.

Jubiläumsprogramm: Der ehemalige Posaunist und Journalist Werner Aldinger ist als Geschäftsleiter seit Langem der wichtigste Mann für das Enja-Programm.

Der ehemalige Posaunist und Journalist Werner Aldinger ist als Geschäftsleiter seit Langem der wichtigste Mann für das Enja-Programm.

(Foto: Ralf Dombrowski)

Die Strukturkrise der Plattenindustrie, dazu noch Corona - anfangs war nicht absehbar, ob man die 50 ersten Jahre des lange Zeit größten deutsche Independent-Labels überhaupt feiern kann. Dank vieler guter Geister - darunter Winckelmanns Sohn David, ein Grafiker, der seit einiger Zeit auch Alben gestaltet; Nadja Weber, seit dem Tod ihres Vaters 2012 Gesellschafterin und Geschäftsführerin dieses Enja-Teils; oder auch die Sängerin, Agentin und Bookerin Stefanie Boltz - kam jetzt doch ein ordentliches Programm unter dem Titel "Enja Legacy" zusammen. Seit dieser Woche ist in der Unterfahrt eine - auch schon beim "EBE-Jazz Festival" gezeigte - Ausstellung mit den schönsten frühen LP-Covers zu sehen. Auch eine Konzertreihe ist in der "Unterfahrt" bereits angelaufen. Die nächsten Termine sind das Makiko Hirabayashi Trio am 31. Oktober, das Rebecca Trescher Tentett am 4. November, das Trio M der amerikanischen Pianistin Myra Melford am 13., das Trio des Star-Gitarristen Philip Catherine am 18. November und das Trio des griechischen Bassisten Petros Klampanis am 30. November. Auch das Solo des Bass-Virtuosen Renaud Garcia-Fons am 27. November kann man dazurechnen. Am 28. Dezember ist mit dem österreichischen Gitarristen Karl Ratzer schließlich ein weiterer großer, dem Label lange verbundener Name zu Gast.

Und auch im Jahr 2022 werden die Feiern weitergehen, und das nicht nur in der Unterfahrt. Die soeben wegen Corona verschobene "Enja Legacy Revue" im Muffatwerk mit den jungen musikalischen Erben Ark Noir, LBT und Salomea findet dort jetzt am 13. März statt. Und am 16. und 17. März werden sich Klassik- und Weltmusik-Künstler des Labels in Kooperation mit der Musikhochschule im Gasteig HP8 präsentieren.

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