Süddeutsche Zeitung

Engagement:Bescheidener Kümmerer

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Horst Reiter hat erheblichen Anteil daran, dass sich in München Menschen in schwierigsten Lebenslagen rund um die Uhr an einen psychiatrischen Krisendienst wenden können. Jetzt geht der Geschäftsführer des Projektevereins der Arbeiterwohlfahrt in Rente

Von Sven Loerzer

Wenn Horst Reiter wehmütig zurückblickt, dann hat das nichts mit dem Abschied vom Berufsleben zu tun, sondern mit dessen Anfang. In den Sechzigerjahren begann der Schwabe aus Leonberg seine erste Ausbildung - Wohnungsbaukaufmann bei der Neuen Heimat in Stuttgart. "Die Neue Heimat hat bezahlbaren Wohnraum für breite Schichten der Bevölkerung geschaffen", sagt Reiter, "heute würde man so was dringend brauchen." Das gewerkschaftseigene Unternehmen hatte durch massenhaften Wohnungsbau die Not der Nachkriegszeit gelindert, war aber Mitte der Achtzigerjahren in die Krise geraten. "Es ist viel schief gelaufen, da war auch Korruption im Spiel." Der überschuldete Konzern wurde als Folge der Affäre zerschlagen, die Wohnungen zu Tausenden verkauft.

Obwohl heute die Neue Heimat von vielen nur mehr mit den Trabantensiedlungen der Großstädte verbunden wird, habe sie doch viel "Innovatives gemacht", sagt Reiter. Innovatives aber hat auch der Verein für Jugend- und Sozialprojekte geleistet, an dessen Spitze Reiter fast 35 Jahre als Geschäftsführer stand. Heute gilt der Verein mit seinen vielfältigen Hilfs-, Wohn- und Arbeitsangeboten für psychisch kranke Menschen als einer der größten Träger für zeitgemäße psychiatrische Versorgung in München. Auch daran, dass sich in München ein rund um die Uhr erreichbarer Psychiatrischer Krisendienst um Menschen in schwierigsten Lebenslagen kümmert, hat Reiter, 65, der jetzt in Rente geht, ganz erheblichen Anteil.

Reiters Eltern waren Arbeiter, sein Großvater war als Gewerkschafter im Betriebsrat aktiv. Eigentlich wollte Horst Reiter ja nach der Mittleren Reife zur Polizei, aber das klappte nicht. In der Mieterzeitung, die seine Großeltern bezogen, weil sie in einer Wohnung der Neuen Heimat lebten, warb der Konzern um Auszubildende. In seiner Lehrzeit sei er "viel rumgekommen" Schon bald nach dem Abschluss der Ausbildung ging er nach München, "der Liebe wegen". Während seiner Bundeswehrzeit im Personalbüro des Fliegerhorsts Fürstenfeldbruck fühlte er sich so unausgelastet, dass er per Telekolleg des Bayerischen Rundfunks das Fachabitur absolvierte.

Ein Orientierungsjahr in einer anthroposophischen Einrichtung führte ihn in ein heilpädagogisches Heim, wo geistig behinderte Kinder und Jugendliche betreut wurden. Mit Mitte 20 begann er Sozialpädagogik an der katholischen Stiftungsfachhochschule zu studieren, da stand Gemeinwesenarbeit im Vordergrund und daneben politisches Engagement. Sein Praktikum - damals ein Jahr - absolvierte er bei der Neuen Heimat Bayern, "bei der ersten Sozialarbeiterin, die von einer Wohnungsgesellschaft beschäftigt wurde". Dort lernte er deren breites Betätigungsfeld kennen, etwa wenn es galt, bei Mietrückständen eine Lösung zu finden, damit die Mieter nicht ihre Wohnung verloren. Oder wenn bei Streitigkeiten von Nachbarn zu vermitteln war. "Zum ersten Mal wurde ich auch mit psychischer Krankheit konfrontiert."

Nach dem Studium fing er beim Sozialpsychiatrischen Dienst (SPDI) Giesing an und arbeitete dort jeweils zur Hälfte auf einer Sozialpädagogen- und einer Verwaltungsstelle. "Ich habe gelernt, was man tun kann, damit psychisch kranke Menschen selbständig leben können", gleichzeitig wuchs er in das Management des Trägers rein. Den Projekteverein hatten Studenten in den Siebzigerjahren gegründet, unter ihnen der heutige Vorstand des Vereins und der Arbeiterwohlfahrt, Jürgen Salzhuber. Im Jahr 1986 übernahm Reiter die Geschäftsführung des zur Arbeiterwohlfahrt gehörenden Projektevereins.

Im Team des SPDI hatte Reiter das multiprofessionelle Arbeiten kennengelernt, weil sich dort Psychologen, Sozialarbeiter und Psychiater zusammen um die Klienten bemühten. Gemeinsam mit anderen Lösungen zu suchen, das hat dann sein ganzes Berufsleben geprägt: Er stellt sich auch jetzt nicht in den Vordergrund, sagt nicht, "ich habe", sondern "wir haben" das getan. "Teamarbeit ist wertvoll", sagt er nicht nur so dahin, sondern davon ist er zutiefst überzeugt: "Es kommt viel mehr dabei raus, als wenn man einzeln vorprescht." Menschen zusammenbringen, das kann er, und deswegen hat er auch ein Faible für Genossenschaften, hat selbst eine gegründet für ein Zehn-Parteien-Haus, in dem er wohnt. Dem Thema Genossenschaften will er sich als Rentner wieder widmen, sie sicherten viel nachhaltiger preiswerten Wohnraum als die befristete Sozialbindung.

Weil die Erfahrung zeigte, dass Menschen, die psychisch erkranken, als erstes den Arbeitsplatz und dann die Wohnung verlieren, "haben wir im Giesinger Team 1985 gesagt, wir brauchen Arbeitsprojekte". Die Stadt entwickelte gerade den zweiten Arbeitsmarkt, so entstand damals die Schreinerwerkstatt Pronova mit fünf Arbeitsplätzen - heute sind es 60.

Flankierend dazu begann der Verein, therapeutische Wohngemeinschaften aufzubauen, die erste startete 1986 in Haidhausen. Und weil Kollegen, wie Reiter sagt, feststellten, dass beim SPDI auch viele ältere psychisch Kranke Hilfe suchten, aber der Zeitbedarf erheblich größer ist, haben sie ein Konzept entwickelt. Daraus entstand 1990 in Ramersdorf der erste Gerontopsychiatrische Dienst in der Bundesrepublik. "Das zeichnet den Projekteverein aus: Die Kollegen sehen, dass was fehlt und entwickeln ein Konzept für das, was wir brauchen." Sein Part sei es dann, die Finanzierung hinzubekommen, etwa den Bezirk Oberbayern zu überzeugen, dass es richtig und wichtig ist, da einzusteigen. Sein ursprünglicher Beruf war da sehr hilfreich, als der Verein 1990 ein Haus in Bayerisch Gmain gekauft hat, um mit einer therapeutische Wohngemeinschaft "für unsere Klienten Wohnraum zu schaffen".

Die Zeit war damals geprägt von der Enthospitalisierung des Bezirkskrankenhauses Haar: "Dort gab es Langzeitstationen, wo psychisch kranke Menschen 30 Jahre gelebt haben." Um ihnen ein Leben außerhalb der Klinik zu ermöglichen, schuf der Projekteverein ein Wohnprojekt mit ambulantem Ansatz in Giesing. Später folgte ein Wohnprojekt für psychisch kranke Wohnungslose in der Gravelottestraße. Freilich gab es bei der Immobiliensuche mitunter auch negative Erfahrungen mit Nachbarn, die sich gegen Pläne für ein Wohnprojekt stellten: "Dabei passiert bei uns nicht mehr als in einem anderen Wohnhaus auch. So gut wie bei uns sind in einem normalen Haus die Leute aber nicht betreut."

Ein Projekt, "auf das ich sehr, sehr stolz bin", war dann 2002 der Psychiatrische Krisendienst München-Ost, der bald auf München und 2015 mit großer Unterstützung des Bezirks auf ganz Oberbayern ausgedehnt wurde. Den lang ersehnten Dienst, "bei dem ganz viele Träger und Einrichtungen beteiligt sind, kann man nur gemeinsam stemmen". Dazu braucht es Ausdauer und Beharrlichkeit, "mit langem Atem lässt sich eine Menge erreichen".

Die Mühe hat sich gelohnt: Über das Krisentelefon ist jederzeit Hilfe zu erhalten, je nach Schwere der Krise kommt auch ein Team, um mit Betroffenen einvernehmlich Lösungen zu suchen. "So lässt sich verhindern, dass Leute per Polizei und Blaulicht in Kliniken eingewiesen werden. Es gelingt in den meisten Fällen, ihnen solche traumatischen Erfahrungen zu ersparen." Inzwischen ist gesetzlich verankert, dass der Dienst in ganz Bayern eingeführt wird. Im Vorstand des Dachverbands Gemeindepsychiatrie will sich Reiter weiter dafür einsetzen, dass andere Bundesländer dem Beispiel folgen.

Die gemeinnützige GmbH des Vereins kümmerte sich 2019 mit 240 Mitarbeitern in mehr als 30 Einrichtungen um fast 5000 Klienten. "Wenn nicht so viele Projekte entstanden wären, hätte ich es nicht so lange ausgehalten", betont der Geschäftsführer. Ganz aus dem Berufsleben verabschiedet sich Reiter zum 1. März noch nicht: Er vertritt für ein halbes Jahr eine Referentin beim Landesverband der Arbeiterwohlfahrt, halbtags. Und danach? Da werden ihn "wohnungspolitische Geschichten" weiter beschäftigen, glaubt er. "Es hat mich immer fasziniert an der Arbeit, dass man für die Leute einiges erreichen kann."

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Quelle:
SZ vom 21.02.2020
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