Süddeutsche Zeitung

Energieversorgung:Raus bist du noch lange nicht

Um Risiken bei der Fernwärmeversorgung auszuschließen, wollen Oberbürgermeister Dieter Reiter und die Stadtwerke den Kohleblock mit gedrosselter Leistung länger laufen lassen, als der Bürgerentscheid vorsieht. Der Stadtrat wird im November darüber abstimmen

Von Dominik Hutter

Letztlich, sagt Oberbürgermeister Dieter Reiter, ist es eine politische Entscheidung: Wie viel ist der Stadt eine Reduzierung der Kohlendioxid-Emissionen im Kraftwerk Nord wert? Läuft der Kohleblock künftig im gedrosselten Betrieb bis Ende 2027, haben die Stadtwerke geringere Erlöse aus dem Energiegeschäft, als wenn der Meiler weiterhin volle Leistung liefern darf. Wie groß dieser Verlust ausfällt, müsse nun der Stadtrat entscheiden. Technisch sieht der SPD-Politiker die wesentlichen Fragen durch das seit vergangener Woche vorliegende Gutachten des TÜV Süd geklärt: Das schließt die komplette Stilllegung Ende 2022, die Thema des erfolgreichen Bürgerentscheids "Raus aus der Steinkohle" war, aus juristischen Gründen aus. Und warnt, dass ein ebenfalls denkbarer Vorhaltebetrieb nicht ausreicht, um die Fernwärmeversorgung zu sichern. "Dieses Risiko werde ich nicht eingehen", erklärte Reiter am Dienstag im Wirtschaftsausschuss. Eine Entscheidung ist in der Sitzung nicht gefallen, das Thema wurde auf vielfachen Wunsch in den November vertagt. Viele Stadträte haben noch Fragen zu dem komplizierten Thema. Und viele sind misstrauisch, ob das nun in Windeseile erstellte Gutachten des TÜV Süd der Weisheit letzter Schluss ist. Brigitte Wolf von den Linken findet es etwa ziemlich angreifbar, dass ein Gutteil der in der Studie verwendeten Daten und Annahmen sowie das Berechnungstool von den Stadtwerken kommen, die doch schließlich der Eigentümer des Kohleblocks seien. Wobei Reiter etwas flapsig nachfragte, von wem die technischen Daten denn sonst kommen sollten - vom Tierschutzverein etwa? Die Linke fordert trotz des Gutachtens, die Kohleverbrennung im Münchner Norden 2022 einzustellen.

ÖDP-Stadtrat Tobias Ruff vermisst den guten Willen, zu einer echten CO₂-Reduzierung zu kommen. Beim gedrosselten Betrieb sei "lange noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht". Statt auf technische Probleme hinzuweisen, solle man sich lieber Gedanken über deren Lösung machen. Den Kohleblock noch weiter herunterzufahren, scheitert laut Stadtwerken und Gutachtern daran, dass die auf Dauerbetrieb angelegte Anlage dann Schaden nehme. Ruff findet es "traurig, Tonnen an CO₂ zu emittieren, damit die Abgasanlage nicht rostet". Zudem hat die ÖDP Zweifel, ob tatsächlich so viel Fernwärme benötigt wird wie Gutachter und Stadtwerke behaupten. Eigentlich handle es sich um eine der kostengünstigsten CO₂-Einsparmaßnahmen, die München beitragen könne. Nach Berechnung des ÖDP-Stadtvorsitzenden Thomas Prudlo kostet jede eingesparte Tonne CO₂ zwischen acht und 15 Euro. Bei anderen städtischen Klimaschutzmaßnahmen gehe es um 200 bis 500 Euro.

Bis zur Beschlussfassung im November wollen die Stadtratsfraktionen nun untereinander und mit Vertretern von Bürgerinitiativen beraten. Das Gutachten bestätigt jedoch im Wesentlichen die bislang verfolgte Haltung der Stadtwerke und damit auch die der Stadtratsmehrheit.

Eine direkte Empfehlung gibt das Gutachten nicht ab. Aus den Texten lässt sich jedoch leicht herauslesen, dass die Gutachter einen gedrosselten Betrieb bis Ende 2027 für die klimafreundlichste und sinnvollste Lösung halten. Denn anders als von den Initiatoren des Bürgerentscheids behauptet, reiche die in den Münchner Kraftwerken erzeugte Fernwärme nach Stilllegung des Kohleblocks nicht aus, um den Münchner Bedarf zu decken - gerechnet wird der Extremfall bei zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit einer Durchschnittstemperatur von minus 16 Grad sowie gleichzeitigem Ausfall der leistungsstärksten Anlage.

Einen abgeschalteten Kohleblock in einem solchen Fall schnell hochzufahren, ist laut den Gutachtern nicht möglich. Falls das Fernwärmenetz in die Knie geht, müsse der Meiler in etwa einer halben Stunde auf volle Leistung gehen. Tatsächlich dauere es jedoch Stunden, das Kohlefeuer wieder anzufachen. Der Plan der Stadtwerke für den gedrosselten Betrieb sieht daher so aus: 60 Prozent Betrieb in den Wintermonaten. Dann kann die Anlage bei weiterem Bedarf rasch hochgefahren werden. In den drei Sommermonaten könnte der Meiler stillliegen. In den übrigen Zeiten außerhalb der Heizperiode versorgen nur zwei der vier Kohlebunker und -mühlen den Kessel, der dann 24 Prozent Leistung abgibt. Weniger gehe nicht, ohne Probleme beim Betrieb zu verursachen.

Bei einem sommerlichen Komplett-Stillstand von mehr als drei Monaten befürchten die Stadtwerke ernsthafte Schäden an dem Kraftwerk. Dies hätten Erfahrungen aus der Vergangenheit gezeigt. Ohnehin sei der Meiler sehr unflexibel. Kohlebunker müssten ständig in Betrieb sein, sonst verbacke die Kohle. Diese Verstopfung zu beseitigen, könne bis zu zwei Wochen dauern. Das Befüllen eines leeren Bunkers wiederum verschlinge sechs bis acht Stunden. Insofern müsse man sich frühzeitig überlegen, welche Leistung gewünscht sei.

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Quelle:
SZ vom 16.10.2019
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