Süddeutsche Zeitung

Ellen-Ammann-Preis:Sicherheit für die Schutzlosen

Geflüchtete Frauen und Kinder sind in Massenunterkünften großen Gefahren ausgesetzt. Jana Weidhaase will sie vor Übergriffen bewahren. Ihr Projekt wurde am Montag ausgezeichnet

Von Julia Bergmann

Was Jana Weidhaase nicht mehr losgelassen hat, ist, dass es gleich zweimal passiert ist. Erst die sexuelle Belästigung, dann die Vergewaltigung. Das Opfer: das behinderte Kind einer geflüchteten Familie in einer Asylbewerberunterkunft. Dort hat Weidhaase vor einigen Jahren als Sozialpädagogin gearbeitet. Das Kind, schutzlos, in einem unbeobachteten Moment von Bewohnern des Heims missbraucht. Die Erfahrung der Familie: kein Einzelfall, wie die 36-Jährige heute weiß. "Massenunterkünfte sind allein durch ihre Struktur gewaltfördernd", sagt sie. Das gelte für jede Art von Gewalt, nicht nur für sexualisierte. Weil sie Kinder und Frauen in Sammelunterkünften besser schützen will, hat sie das Projekt "We Talk - Women fight violence" ins Leben gerufen. Ziel ist es, Frauen besser zu vernetzen und über ihre Rechte aufzuklären. Dafür hat sie am Montag als Drittplatzierte den Ellen-Ammann-Preis des Katholischen Deutschen Frauenbunds erhalten. Mit ihm werden Menschen ausgezeichnet, die neue Wege gehen, um die Lebensumstände von Frauen zu verbessern.

Weidhaases Projekt ist beim Bayerischen Flüchtlingsrat angesiedelt, dort arbeitet sie seit 2016. Die Idee hinter "We talk - Women fight violence": Zehn Tandems, bestehend aus jeweils zwei Frauen, kümmern sich am jeweiligen Wohnort um Frauen und Kinder in Asylsammelunterkünften. Von den beiden Frauen hat eine jeweils selbst Fluchterfahrung. Die Frauen wüssten, wo Hilfe am besten ansetzen könne. "Wer das selbst erlebt hat, weiß genau, welche Sorgen und Nöte die Betroffenen haben", sagt Weidhaase. Einfühlen könne sich jemand ohne Fluchterfahrung auch. Aber er werde nie ganz verstehen, was es bedeutet, in dieser Situation zu leben. Gemeinsam mit Hunderten Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, teils ohne Bleibeperspektive, ohne Arbeitserlaubnis, zum Warten und Nichtstun verdammt. Dazu kommt: In den Unterkünften gibt es nicht viel Privatsphäre, nicht einmal die Möglichkeit, das eigenes Zimmer abzuschließen.

Weidhaase hat während ihrer Berufsjahre vieles gesehen. Vieles, was sie aufgerüttelt und dazu gebracht hat, das Projekt anzuschieben. "Wenn ich Ungerechtigkeit in der Welt sehe, treibt mich das an, aktiv zu werden", sagt sie. Im Kleinen wie im Großen. Ob es um die Gründung eines Repair-Cafés, das Verzichten auf Fleischkonsum oder Flugreisen gehe. Weidhaase ist der Typ Mensch, der macht. Weil sie sicher ist, dass auch große Veränderungen im Kleinen anfangen. Dazu kommt ihr ausgeprägte Gerechtigkeitssinn. "Schon als Kind. Wenn jemand ausgeschlossen wurde, ist mir das aufgefallen", sagt sie.

Nach ihrem Abitur ist Weidhaase zunächst als Au-pair in die USA gegangen. "Ich habe überlegt, was ich mit meinem Leben machen will." Die Antwort war schnell gefunden: soziale Arbeit, das passte zu ihr. Schon während des Studiums absolvierte sie ein Praktikum in einer Flüchtlingsunterkunft. Der erste Job in Dublin in einer Aufnahmeeinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge folgte. Später, zurück in Deutschland, arbeitete sie weiter in verschiedenen Heimen für Geflüchtete und in der Asylsozialberatung, bis sie zum Bayerischen Flüchtlingsrat kam.

Die Arbeit mit den Geflüchteten hat sie nie losgelassen. "Ich habe das immer mit ganzem Herzen gemacht." Umso schmerzhafter die Erfahrung, dass es nicht für alle Probleme schnelle Lösungen gibt. Die Familie des Kindes, das gleich zweimal Opfer von sexualisierter Gewalt wurde: "Eigentlich ist das eine Erfahrung, nach der man die Frau und ihr Kind sofort aus der Unterkunft herausholen möchte." So ein Prozess dauere aber Monate. Wenn die Sozialpäda-gogin heute davon spricht, bemerkt man immer noch den Schmerz von einst. Der bürokratische Aufwand ist hoch, die Bearbeitungszeit lang, es braucht Atteste, Anzeigen bei der Polizei, einen ganzen Haufen an Dokumentation. Weidhaase sitzt in ihrem Büro, schüttelt den Kopf, gestikuliert leidenschaftlich, als könne sie auch nach Jahren im Job nicht glauben, dass das so ist.

Die Preisträgerinnen 2019

Mit dem Ellen-Ammann-Preis des Katholischen Deutschen Frauenbundes Landesverband Bayern werden Menschen ausgezeichnet, die neue Wege gehen, um die Lebensumstände von Frauen zu verbessern, die in ihrem Engagement Grenzen überschritten haben und sich mit Beharrlichkeit für ihre Projektziele eingesetzt haben. In diesem Jahr wurde der Preis zum vierten Mal verliehen. Die Preisträgerinnen sind Jutta Speidel (1. Platz), Sabine Demel (2. Platz), Jana Weidhaase (3.Platz), Ele Schöfthaler (4. Platz), Claudia Burmeister (5.Platz).

Jutta Speidel ist die Gründerin des Münchner Vereins Horizont. Von einem Bericht über Kinder ohne festen Wohnsitz im wohlhabenden München tief bewegt, initiierte die Schauspielerin das Projekt 1997 und mietete ein ehemaliges Hotel für obdachlose Kinder und deren Mütter. Seither konnte der Verein 2300 obdachlose Kinder und ihre Mütter beim Weg in ein selbstbestimmtes Leben begleiten. Entstanden sind mittlerweile auch zwei eigene Horizont-Häuser mit insgesamt 74 Wohnungen. Dort finden obdachlose Kinder und deren Mütter einen Ort der Ruhe und Sicherheit.

Theologin Sabine Demel hat vor 20 Jahren den Verein Donum Vitae in Bayern mitgegründet. Mittlerweile kümmern sich etwa 200 Mitarbeiter an 20 Stellen um Schwangeren- und Schwangerenkonfliktberatung. Das Aufgabenfeld umfasst Themen wie Sexualpädagogik, Pränataldiagnostik, unerfüllter Kinderwunsch, vertrauliche Geburt und Trauerbegleitung, wenn ein Kind zu klein und schwach zum Leben ist. Für die Mitarbeiter stehe vor allem eines im Vordergrund: "Nahe bei den Frauen zu sein, sie für das ungeborene Kind zu gewinnen, aber sie zugleich auch spüren zu lassen, dass sie, egal, wie sie sich entscheiden, nicht verurteilt werden", sagt Demel.

Die Soziologin und Journalistin Ele Schöfthaler wird für ihr Projekt "Kindernester" ausgezeichnet. 2004 etablierte sie das Angebot mit ihrem Verein "ZAK - Zentrum für Arbeit und Kultur" in Schwabach und Landshut. Mittlerweile werden in den Kindernestern 300 Kinder zu flexiblen Zeiten betreut. Das heißt, wenn nötig auch nachts oder am Wochenende. Das Konzept richtet sich damit gezielt auch an alleinerziehende Mütter in Schichtarbeit, etwa an Krankenschwestern und Pflegekräfte.

Für ihr Projekt "Waagnis" wird Sozialpädagogin Claudia Burmeister geehrt. 2009 gegründet, hilft der Regensburger Verein mittlerweile bis zu 500 Menschen mit Essstörung pro Jahr. Betroffen sind überwiegend junge Mädchen und Frauen. Mit ihnen gemeinsam wird in Beratungsgesprächen nach geeigneten Therapiemöglichkeiten gesucht.

Namensgebend für die Auszeichnung des Preises des Katholischen Deutschen Frauenbundes Landesverband Bayern ist Ellen Ammann, die der Verein als Wegbereiterin der modernen Sozialarbeit sieht. Ammann (1870-1932) war selbst berufstätige Mutter von sechs Kindern und verheiratet. Sie setzte sich für Gleichberechtigung ein, war kirchliche Aktivistin und als Politikerin eine der ersten Frauen im bayerischen Landtag. Viele Organisationen und Einrichtungen, darunter der Katholische Deutsche Frauenbund, In Via, die Katholische Stiftungshochschule, die Katholische Bahnhofsmission wurden von Ellen Ammann initiiert und fühlen sich ihrer Gründerin bis heute verbunden.BERJ

Die Tandems, die Weidhaase gemeinsam mit ihren Kollegen in ganz Bayern etablieren will, sollen das ändern. Sie sollen bei den drei großen Problemen ansetzen, die sie in den Unterkünften immer wieder beobachten konnte. Das erste sei, dass die Frauen und Kinder in der fremden Umgebung schlichtweg nicht wüssten, an wen sie sich wenden müssen. Die ehrenamtlichen Helferinnen kennen die Anlaufstellen. Das zweite große Problem: Gewalt ist immer noch ein Tabuthema. Und das dritte: die Isolation in den Heimen.

"Auch Männern geht es in Gemeinschaftsunterkünften nicht gut, aber gerade Frauen sind noch stärker isoliert", sagt Weidhaase. In vielen Kulturen seien es die Männer, die nach draußen gehen, offizielle Angelegenheiten regelten. Auch in der offenen Beratung seien es eher die Männer, die kommen. Es gehe dann meist um die "hard facts": Gesetzeslage, Rechte, Ansprüche. Die Frauen übernehmen hingegen die häuslichen Aufgaben: kochen, Haushalt, für die Kinder sorgen. Dazu kommt: Viele der Männer haben in ihren Heimatländern die bessere Bildung genossen. Wenn jemand gelernt habe, englisch zu sprechen, sei das eher der Mann als die Frau. So falle es Männern leichter, Kontakte auch im fremden Land zu knüpfen - aus der Isolation auszubrechen. Gerade deswegen liegt es Weidhaase am Herzen, dass sich die Frauen über ihr Projekt vernetzen können.

Was genau die insgesamt zehn bisher eingerichteten Tandems an ihren Standorten anbieten, richtet sich danach, welche Strukturen dort bisher noch fehlen. Die ersten Tandems haben ihre Ausbildung in sieben Workshops vor Kurzem abgeschlossen. Sie haben rechtliche Grundlagen vermittelt bekommen, gelernt, wie sich Frauen selbst verteidigen können, wie man mit Trauma und Gewalterfahrungen umgeht, wie man mit traumatisierten Kindern über ihre Erfahrungen spricht, an welche Stellen man sich wenden muss.

Entstanden sind offene Frauentreffs, eine Kinderbetreuungsgruppe, ein Sprachkurs nur für weibliche Geflüchtete. "Die Tandems sind in ganz Bayern verteilt. Der Fokus liegt auf ländlichen Regionen", sagt Weidhaase. Dort seien die Angebote speziell für geflüchtete Frauen oft selten. Ausnahmen gibt es. Eines der Tandems in der Nähe von Augsburg musste feststellen, dass es in ihrer Region schon ein breites Netz gibt. "Sie haben sich also darauf spezialisiert, diese Angebote für die Bewohnerinnen der Asylbewerberunterkünfte besser sichtbar zu machen."

Es gehe dabei nicht immer vordergründig um das Thema Gewalt oder Gewaltprävention. Das Treffen, der Austausch stehen im Vordergrund. Bei den Angeboten der Tandems handle es sich um ein niederschwelliges Angebot. "Wir wollen Menschen untereinander vernetzen, sodass Frauen selbst tätig werden können." Viele der Frauen müssten erst einmal Kontakte aufbauen, Vertrauen fassen können. Weidhaase weiß: Viele sprechen erst Jahre später über Gewalterfahrungen in den Heimen. Oft erst dann, wenn sie als Asylbewerber anerkannt wurden und das Gefühl haben, sicher zu sein. Doch je früher sich Frauen Hilfe suchen können, desto sicherer wird für sie das Leben in den Unterkünften. Das Projekt, mit bisher zehn Tandems, sei "ein Tropfen auf dem heißen Stein", sagt Weidhaase. Aber es sei ein Anfang. "Auch die kleinen Dinge machen einen Unterschied." Natürlich, es bräuchte mehr Tandems. Es sollen auch mehr werden. Damit das, was der jungen Flüchtlingsfamilie damals geschen ist, sich nicht wiederholt.

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Quelle:
SZ vom 02.07.2019
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