E-Mobilität:"Da irgendwo müsste er sein"

E-Scooter in München, 2019

3000 Roller gibt es in München von insgesamt vier Anbietern: Tier, Lime, Voi und Circ.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

3000 Leih-Elektroroller gibt es in München. Täglich nutzen Hunderte Touristen, Pendler und müde Fußgänger die E-Roller, bis sie leer sind. Und dann? Eine Nacht lang unterwegs mit einem Juicer.

Von Elisa Schwarz

Einmal stand der Roller in einer Wohnung. Martin weiß das noch genau, weil die Situation so absurd war: Er, wie er auf der Straße stand mit dem Handy in der Hand. Wie er den Punkt auf der Karte in seiner App sah, direkt vor ihm, und dann, als er aufschaute, direkt vor sich, war da kein Roller. Also rief er ihn an, das geht tatsächlich, grüne Taste "Anrufen". Und plötzlich leuchtete der kleine Scheinwerfer des Rollers hinter einem Fenster. Im zweiten Stock eines Wohnhauses, erzählt Martin. Direkt vor ihm.

"So viel zu Sharing", sagt Martin. Er steht auf einem Bürgersteig in München, es ist dunkel und nass. Er soll E-Roller einsammeln und zum Aufladen in die Zentrale bringen. Martin heißt eigentlich anders, aber weil er über seinen Arbeitgeber sprechen wird in dieser Nacht, möchte er anonym bleiben. Regen prasselt auf seinen grauen Kapuzenhoodie. Er sieht ein bisschen verloren aus, wie er auf sein Handy schaut und dann auf den Bürgersteig und dann wieder aufs Handy. "Eigentlich sollte der Roller genau hier stehen", sagt Martin. Direkt vor ihm. Wieder einmal. Er geht ein paar Schritte auf und ab, schaut die Hausfassade hoch, man weiß ja nie, guckt in den Hinterhof. Er ruft den Roller an, der Roller antwortet nicht. "Nervig", sagt Martin. Dann tippt er auf die Taste "Report as not found" und steigt wieder in seinen weißen Sprinter. Es gibt ja noch 2999 andere Elektroroller in München.

Seit dem 15. Juni dürfen Elektroroller in Deutschland gefahren werden. Das tun in München seitdem Hunderte Touristen, Pendler und Betrunkene - und zwar so lange, bis die Roller leer sind. Dann stehen sie herum: an den Straßenecken, in der Innenstadt, in Wohnungen. Oder in Bäumen. Seit die Obikes abtransportiert werden mussten, ist da wieder Platz. "In der Isar liegen auch ein paar", sagt Martin und er sagt auch: "schlechtes Zeichen."

Seit dem 15. Juni ist es also überall noch ein bisschen enger geworden. Und weil das meistens nicht so gut ist für das Zusammenleben auf der Straße, waren die Rolleranbieter von Anfang an sehr freundlich und kooperationsbereit, sagt ein Sprecher des Kreisverwaltungsreferats. Bloß nicht noch so ein Obike-Chaos. 3000 Roller gibt es in München von insgesamt vier Anbietern: Tier, Lime, Voi und Circ. Im Januar waren noch zwölf Anbieter im Gespräch, sagt der Sprecher. Möglich also, dass es noch ein bisschen enger wird.

Lange vor dem 15. Juni ging deswegen auch die Diskussion los, was die Roller machen mit einer Stadt, mit der Umwelt, und mit den Leuten, die als unsichtbares Verlängerungskabel für ein paar Euro Rollerbatterien aufladen. Menschen wie Martin.

Im Sprinter läuft eine Playlist mit Chart-Hits, die Heizung ballert, es ist feucht vom Regen und kurz nach Mitternacht. Seit drei Wochen sammelt Martin leergefahrene Roller ein. Angefangen hat er mit den grün-weißen Rollern von Lime, da war er als Selbständiger angemeldet. Auf Instagram lief die Werbung rauf und runter, als die Roller noch nicht mal auf der Straße waren. "Werde Juicer", "unlock life", das klingt auch einfach gut. "Ich habe mir so gedacht, das ist eigentlich voll das gute Geschäft", sagt Martin. Er fährt jetzt mit dem Sprinter den Linien auf dem Navi nach zum nächsten Roller. Zumindest zum nächsten Punkt auf der Handy-Karte.

Vier Euro verdiente Martin bei Lime pro leergefahrenen Roller, den er einsammelte und auflud bei seinen Eltern im Keller. Minus Strom. Minus Sprit für seinen kleinen Sportwagen, in den ein Roller passte, und wenn Martin Lust auf Tetris hatte, sogar zwei. Minus Steuern. 2,80 Euro blieb übrig für Martin, den Juicer, wie sie bei Lime genannt werden, weil Lime-Juicer lustig klingt.

Seit das Arbeitsleben auch im Internet stattfindet, gibt es eine neue Form der Minijobs: Den sogenannten Gig, den kurzen Auftritt als Dienstleister. Mal eine Pizza ausfahren, mal ein Formular testen, mal einen Elektroroller aufladen für ein paar Euro. Keine komplizierten Verträge, Geld gibt es sofort - die Minijobs sind zu Kleinstjobs geworden. Kritiker sagen: Die neue digitale Arbeit ist so klein geworden, dass sie nur schwer kontrollierbar ist. Ein neues Prekariat also?

Für Martin ist das Rolleraufladen vor allem ein praktischer, weil flexibler Nebenjob. Er sagt, als Student mache man sich nicht so viele Gedanken über Arbeitnehmerrechte. Martin studiert an der Ludwig-Maximilians-Universität und lässt sich vor den Klausuren die Notizen seiner Kommilitonen geben, weil er eigentlich andere Pläne hat. Ein Business aufbauen, Urlaub machen, ausschlafen, nachts arbeiten. Roller einsammeln und damit schnelles Geld verdienen. "Ich kann halt auch jederzeit aufhören, wenn ich keine Lust mehr habe", sagt er. Auf Lime hatte er keine Lust mehr.

Wie ein Tierpark-Ranger auf der Lauer sucht Martin die Elektroroller

"Am Anfang gab es unter den Juicern noch einen richtigen Kampf um die Roller", sagt Martin. Er reservierte damals die Roller, die er aufladen wollte. 20 Minuten hatte er dann Zeit, um zu dem Roller zu fahren, 20 Minuten von der einen Seite der Stadt zur anderen. Als er ankam, standen schon andere Juicer um den Roller. Als er ankam, war häufig die Reservierung schon weg. "Heute macht das kaum noch einer, weil sie einfach zu schlecht bezahlen."

Martin öffnet die Lime-App auf seinem Handy. Es tauchen kleine Lime-Roller auf, daneben ein Symbol für die Akkustände. Die meisten sind fast leer. "Die sammelt jetzt auch keiner mehr ein, weil sie um sieben Uhr morgen früh spätestens wieder auf der Straße sein müssen", sagt Martin. Es ist jetzt 0.46 Uhr. Und sieben Stunden braucht so ein Roller, bis er vollgeladen ist. Unverbindliche Arbeitsverhältnisse sind in beide Richtungen unverbindlich. Martin wechselte zu Circ. "Großer Unterschied", sagt er. Dort wird den Mitarbeitern ein Sprinter zur Verfügung gestellt.

Bei Nacht wirken die Straßen in München so, als könnten sie eigentlich gar nicht zu eng sein. Breit. Und leer, sogar die Leopoldstraße, sogar der Mittlere Ring. Martin sagt noch: "mega entspannt." Dann hupt hinter ihm ein Taxifahrer auf der breiten und leeren Lindwurmstraße. "Taxifahrer mögen uns nicht", sagt er, und ein bisschen scheint ihn das zu freuen. Er stellt den Sprinter an einer Straßenecke ab, guckt durch die Scheibenwischer, guckt auf sein Handy und sagt, mit der Kapuze tief im Gesicht: "Da irgendwo müsste er sein." Wie ein Tierpark-Ranger auf der Lauer. Martin steigt aus dem Wagen, stapft durch den Regen und findet den Roller neben einer Straßenlaterne. Er scannt den Barcode ein, drückt auf "collect". In der dunklen Straße geht der kleine Roller-Scheinwerfer an. Ein blechernes, lautes "Bingbing" scheppert über den Gehweg, breit und leer und ein bisschen gespenstisch.

Anders als bei Lime wird Martin bei Circ pro Stunde bezahlt. Zwölf Euro, sagt er, plus Zuschläge. An Feiertagen verdient er doppelt so viel. Eine Mindestvorgabe für eingesammelte Roller gibt es nicht. Vor jeder Schicht bekommt jeder der etwa 50 Circ-Mitarbeiter einen Bezirk zugeteilt, ein Handy und einen Transporter. Auf dem Jobportal indeed hat Martin die Anzeige gesehen, vor ein, zwei Wochen. Da stand nicht: Werde Juicer, sondern einfach: Wir suchen Mitarbeiter. Wir stellen ein. Martin bewarb sich online, 30 Minuten später wurde er angerufen, einen Tag später saß er im Vorstellungsgespräch. "Können Sie einen Transporter fahren?" Und Martin, der viele Dinge tut, aber noch keinen Transporter gefahren hat, sagte: "Klar."

Wenn Martin durch die Straßen fährt, dann sieht sein Manager einen kleinen Bauarbeiterhelm auf dem Bildschirm in der Zentrale in Ismaning. Man sieht die Helme auch auf der GoFleet-App, die Circ auf den Geschäftshandys installiert. GoFleet ist eine Tracking-App. Auf der Karte sieht Martin, wo seine Kollegen gerade sind und wo die Roller stehen. Es sieht so aus, als würden Bauarbeiterhelme schwarze Punkte jagen. Wie bei Pac-Man. Nur in langsam. Und das ist natürlich lustig, kleine Bauarbeiterhelme in München. Aber wenn der Bauarbeiterhelm länger steht, zum Beispiel, weil Martin Pause macht, dann klingelt sein Handy, sagt Martin, und sein Manager beschwert sich: Er solle nicht stehen, gerade sei es schlecht, so viel zu tun. Fahr weiter.

Der Arbeitgeber trackt Martin per GPS - zugestimmt hat er dem nicht

Dass er getrackt wird als Fahrer, hat ihn verunsichert und dann geärgert. Auch noch, als er wieder zu Hause war, wo man ja manchmal vergisst, was man nicht vergessen wollte. Martin nahm ein Gesetzbuch und las über personenbezogenen Daten und darüber, dass er einwilligen muss als Arbeitnehmer, damit eine GPS-Ortung rechtmäßig ist. Hat er aber nicht, sagt er. Zumindest nicht bewusst. Und erst recht nicht habe er eingewilligt, dass seine Pausen überprüft und eingeschränkt würden. Bei einer Arbeitszeit von acht Stunden steht ihm eine halbstündige Pause zu. An der Tankstelle anhalten und kurz aufs Klo gehen, das geht schon, sagt Martin, aber wirklich stehen, da wo keine Roller sind - schwierig. Circ teilt auf Anfrage mit, dass sie gesetzliche Vorschriften bei Pausen einhalten. "Aber ganz ehrlich, wie will das irgendjemand überprüfen", sagt Martin.

Halb zwei, Martin ist jetzt beim Gärtnerplatz. Sechs Roller liegen im Sprinter, und es werden auch nicht mehr in dieser Nacht. Weil es nur geregnet hat, tagelang, wollte kaum jemand Roller fahren.

Eine "echte zusätzliche Alternative zum Auto" hatte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer gesagt, und das mit dem "echt" ist zumindest fragwürdig, weil ein Auto immer noch ein Dach hat und ein Roller nicht. Und dann hat auch noch eine Umfrage des Beratungsunternehmens Civity ergeben, dass die Roller hauptsächlich am Wochenende benutzt werden. Für kurze Wege. Also eher von Touristen als von Autofahrern.

Weil also kaum leere Roller herumstehen, muss Martin die vollen neu verteilen. Rebalancing nennt sich das. Auf seinem Handy sieht man jetzt zwei Kreise, einer links, einer rechts vom Gärtnerplatz. Über dem einen steht eine vier, über dem anderen eine eins. "Rechts ist einer zu viel", sagt Martin, "den muss ich auf die andere Seite fahren." Die Stadt München hat in einer freiwilligen Selbstverpflichtung Vorgaben für die Verleiher festgelegt: Maximal drei Roller dürfen in einem Umkreis von 100 Metern aufgestellt werden. Nicht in Einfahrten. Nicht mitten auf dem Gehweg. Nicht direkt vor Haltestellen. Nicht im "Straßenbegleitgrün" - nicht in Bäumen. Auf Bäume darf Martin nicht klettern, um so einen Roller zu holen. Er darf auch nicht in Wohnungen und nicht in die Isar. Martin fährt den Roller von der einen Seite des Gärtnerplatzes auf die andere und sagt: "Das ist jetzt ein bisschen unnötig, aber na ja."

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