Einfach nur anders (1): Bernd Wingen stottert:Worte als Stolpersteine

Bernd Wingen stottert, seit er ein Kind ist. Sich mit Namen vorzustellen, bereitet dem 55-Jährigen immer noch Schwierigkeiten. In vielen anderen Situationen weiß er sich jedoch inzwischen zu helfen.

Simone Sälzer

Ihre Lebensgeschichten sind unterschiedlich: Sie sind arbeitslos, obdachlos, süchtig oder einfach nur anders. Doch sie haben eines gemeinsam - in der Gesellschaft haben sie keine Lobby. In einer Serie porträtiert sueddeutsche.de Menschen, die sich an den Rand gedrängt fühlen und "einfach nur anders" sind. In der ersten Folge geht es um Bernd Wingen, einen Stotterer.

Bernd Wingen

"Beim Telefonieren oder bei emotionalen Situationen kommt es häufiger vor, dass ich stottere": Bernd Wingen aus Feldkirchen-Westerham.

(Foto: Simone Sälzer)

Die Mundwinkel sind verkrampft. Seine Gesichtszüge angespannt. Die Augen geschlossen. Der Kopf leicht verdreht. Seine Lippen vibrieren. "Hallo, ich bin Bbbbernd Wwwwingen", sagt der 55-Jährige. Bernd Wingen lehnt sich zurück - und lächelt entspannt. Sein Name ist endlich raus.

Die Szene spielt sich innerhalb weniger Sekunden ab. Für Bernd Wingen waren diese Sekunden früher eine Qual, heute steht der Feldkirchner selbstbewusst zu seinem Stottern - und stolpert dank einer Therapie nur noch selten über Wörter. "Doch mein Name ist immer noch schwer für mich", sagt der großgewachsene Mann mit den kurzen, dunklen Haaren, der leger Jeans und Pulli trägt, und lacht. "Das hat sich so eingeprägt."

Bernd Wingen bleibt vor allem hängen, wenn am Wortanfang nach einem Konsonanten ein Vokal folgt. Schwer gehen ihm 'B', 'W', 'S', 'V' oder 'F' über die Lippen. Bei seinem Namen fatal. Andere Wörter versucht er, so gut es geht, zu vermeiden: So sagt er zum "Fernseher" immer "TV".

In Deutschland stottern etwa 800.000 Menschen. In München wären es demnach statistisch 13.000. Genaue Zahlen gibt es nicht. In die Münchner Selbsthilfegruppe für Stotterer, zu der Bernd Wingen geht, kommen nur 30 Betroffene.

Als Kind hat Wingen schnell bemerkt, dass seine Sätze nicht so klar sind wie die anderer Kinder. "Dass ich stottere, wurde mir aber erst mit neun Jahren bewusst", sagt der Konstrukteur. Er kannte kein Kind, das wie er stottert. Er fühlte sich anders, einsam, nicht dazugehörig.

An zwei Situationen aus der Schulzeit erinnert er sich noch heute genau: Als er ein Wort mit einem 'ei' nicht aussprechen kann, äffen ihn seine Mitschüler nach. Peinlich ist ihm auch, als ein Lehrer bei einer Tonband-Aufnahme für ein Weihnachtsspiel zig Versuche braucht. "Die Schule war aber relativ einfach für mich", sagt er. "Mich hat nie jemand danach beurteilt, ob ich spreche oder nicht." Seine Mitschüler ziehen über seinen Sprachfehler nur selten her. Dennoch ist das unangenehme Gefühl im Kopf allgegenwärtig: Sage ich etwas oder nicht? Bleibe ich wieder hängen? Blamiere ich mich? Bernd Wingen beschließt fast immer, sich lieber nicht zu Wort zu melden.

"Ich bestellte vier statt zwei Brezen"

Als Jugendlicher zieht sich Bernd Wingen zurück. Therapien bei Logopäden und Psychologen sind erfolglos. "Ich habe nie Fußball oder Volleyball gespielt", erzählt er. "Ich habe mir Hobbys gesucht, bei denen ich nicht sprechen musste." Er liest viel, fährt Rad und joggt. Vor Vorstellungsgesprächen hat er Herzklopfen, Riesenangst, Panik, sich zu blamieren. Auch ein Einkauf beim Bäcker könnte schon zum Schweißausbruch führen. "Ich bestellte vier statt zwei Brezen, um nicht zu stottern." Frauen spricht er lieber nicht an. "Da war ich zu gehemmt", sagt er heute und lacht. "Meine heutige Frau hat mich damals angesprochen und nicht locker gelassen."

Bernd Wingen sitzt in der Küche seiner Doppelhaushälfte in Feldkirchen-Westerham, 30 Kilometer südlich von München. Er lebt hier mit seiner Frau und den drei Söhnen. Er ist ein geselliger und lockerer Mensch, unternimmt viel mit Freunden und Familie. An den Wänden in seinem Haus hängen viele Fotos der Familie. Wenn er aus seinem Leben erzählt, gerät der 55-Jährige nur selten ins Stottern. Er lacht viel.

Das Telefon klingelt im Flur, es ist eine Freundin der Familie. "Beim Telefonieren oder bei emotionalen Situationen kommt es häufiger vor, dass ich stottere", sagt er. Er kämpft noch mehr mit den Wörtern, überspielt das aber mit einem Lächeln. Wenn er etwas erzählt, unterstreicht er das Gesagte immer wieder mit seinen Händen. Stockt er bei einem Buchstaben, hält er kurz inne und erzählt weiter, als sei nichts gewesen. Dennoch wirkt er ein bisschen erleichtert, als er das kurze Gespräch beendet hat. Situationen, die für andere selbstverständlich sind, können für Stotterer zu einer Tortur werden.

Der Unfall im Alter von drei Jahren

Die Ursache für das Stottern ist bis heute nicht hundertprozentig erforscht. "Stottern ist erblich. Die rechte und linke Gehirnhälfte im Sprachzentrum kommunizieren nicht schnell genug miteinander", sagt Bernd Wingen. Sehr viele Kinder stottern ganz kurz, verlieren es dann aber wieder. Nur bei einem Prozent ist es nicht mehr heilbar.

Seine Eltern und Großeltern haben nicht gestottert - wohl aber sein Bruder, kurzzeitig. Es gebe auch Faktoren, die das Stottern verstärken, wie eine schlechte Kindheit oder ein Unfall, sagt Bernd Wingen. "Mich hat mit drei Jahren ein Auto angefahren, mir ist aber nichts passiert. Meine Mutter war zur gleichen Zeit mit Zwillingen schwanger, sodass sie sich nicht ausschließlich um mich kümmern konnte."

Je älter Bernd Wingen wird, desto energischer geht er sein Sprachproblem an: "Man stottert nur, weil man Angst vor dem Stottern hat." Er ist kaum auf Ablehnung gestoßen. Dennoch wird er auch heute nie auf sein Stottern angesprochen. Es ist immer noch ein gesellschaftliches Tabuthema.

Es dauert lange, bis Bernd Wingen den Mut fasst, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Das ist 1992. "Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass ich nicht der Einzige auf der Welt bin, der stottert." Heute leitet er sogar die Stotterer-Selbsthilfegruppe München.

Vor 15 Jahren macht er seine erste erfolgreiche Therapie: nach Charles Van Riper. Der Amerikaner gilt als Begründer einer der wichtigsten wissenschaftlich anerkannten Stottertherapien. "Ich lernte zum ersten Mal mein Stottern kennen", erzählt Bernd Wingen. "Es war grauenhaft, als ich eine Aufnahme von mir gehört habe." Er lernt, sein hartes Stottern mit weichem Sprechen auszugleichen. Und er muss sich bewusst Situationen aussetzen, die ihn zum Stottern bringen.

Heute ist Stottern für Bernd Wingen ein Teil seines Leben, ist Normalität geworden. Er versteckt es nicht mehr. Er hält Vorträge, moderiert Gruppengespräche und spricht sogar im Radio über sein Stottern. Auch wenn er über das eine oder andere Wort stolpert. "Es kommt nicht darauf an, ob man stottert, sondern Selbstvertrauen zu entwickeln, offen damit umzugehen."

Die Münchner Selbsthilfegruppe gibt es seit 30 Jahren. Die Betroffenen treffen sich jeden ersten und dritten Montag im Monat, 18 Uhr, in Schwabing: 1. Stock/Erkerzimmer der Seidlvilla, Nikolaiplatz 1b (U-Bahnstation Giselastraße). Ansprechpartner ist Bernd Wingen: Tel.: 08063/7835, E-Mail: bernd.wingen@stottern-in-muenchen.de; www.stottern-in-muenchen.de.

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