Maxvorstadt:"Man grantelt gemeinsam, dann versteht man sich"

Maxvorstadt: "Meine Freunde in Berlin, Hamburg oder Köln schimpfen in einer Tour auf München", ist eine Erfahrung von Schauspieler Jürgen Tonkel (rechts). Daniel Jarnecic sagt: "Schimpfen ist ja eigentlich etwas Normales, etwas Schönes."

"Meine Freunde in Berlin, Hamburg oder Köln schimpfen in einer Tour auf München", ist eine Erfahrung von Schauspieler Jürgen Tonkel (rechts). Daniel Jarnecic sagt: "Schimpfen ist ja eigentlich etwas Normales, etwas Schönes."

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Nach außen hin verteidigen Münchner ihre Stadt vehement. Sind sie unter sich, ziehen sie zuweilen hemmungslos über sie her - generationenübergreifend. Ein Streitgespräch.

Interview von Elisabeth Kagermeier

Blöd daherreden heißt in München granteln und gehört zum Münchner Kulturerbe, wenn man zwei Grantlern, dem Schauspieler Jürgen Tonkel, 53, ("Wer früher stirbt ist länger tot", "Die Chefin") und dem jungen Agentur-Mitarbeiter Daniel Jarnecic, 28, glauben darf. Ein generationenübergreifendes Streitgespräch in einem Biergarten in der Maxvorstadt, Ende Juni. Die Sonne lässt sich zwar kaum blicken, aber immerhin regnet es nicht wie vorhergesagt - und wie so häufig in diesem Sommer. Als Jürgen Tonkel und Daniel Jarnecic in der Adalbertstraße ankommen, sind sie trotz des Wetterglücks gleich in ihrem Element. Grantler eben. Oder wie sie es sagen: "Wir haben uns gleich nett unterhalten."

Daniel Jarnecic: Die Deppen, die sich für München rechtfertigen, sind selber schuld.

Jürgen Tonkel: Meine Freunde in Berlin, Hamburg oder Köln schimpfen in einer Tour auf München. Die Berliner sagen immer, München sei langweilig und die Leute alle unfreundlich und muffelig. Irgendwann hab ich das Rechtfertigen aufgegeben.

Alex, 25 Jahre, gibt das Motto vor

"Für das schöne München muss ich mich ständig rechtfertigen."

Daniel Jarnecic: Heutzutage muss ja immer alles euphorisch sein. Der Münchner braucht das halt einfach nicht.

Jürgen Tonkel: Viele sagen, sie finden keinen Kontakt in München, die sind so verschlossen. Aber das find ich nicht, hier sitzt alles nur ein bisschen tiefer. Der Ton, der für die Münchner absolut normal ist, wird außerhalb der Stadt immer aggressiver wahrgenommen. Zwei Münchner granteln sich einfach an, dann gehen die auseinander, und es ist wieder gut. Es ist eher so: Man grantelt gemeinsam, dann versteht man sich.

Daniel Jarnecic: Schimpfen ist ja eigentlich etwas Normales, etwas Schönes. Der Schuhbeck bei der Küchenschlacht sagt ja auch nicht 'Des is superlecker', sondern 'Schlecht ist's nicht!'

Jürgen Tonkel lacht und greift nach dem Obazdn und der angeblich zu trockenen Brezn.

Jürgen Tonkel: Meine Familie hat sich totgelacht, als ich gesagt habe, die Süddeutsche Zeitung hat mich zum Grantlergespräch gebeten. Meine Töchter haben gesagt, das kann ja wohl nicht wahr sein, da haben sie genau den Richtigen. Ich bin eigentlich nur am Granteln, immer. Diese Gefühlsstruktur gibt's nur hier.

Daniel Jarnecic: Wenn ich Freunde in München zu Besuch hab, und die fragen: Was ist eigentlich dieses Granteln? Dann sag ich: Unesco-Weltkulturerbe. Wer weiß, wie viele das schon gegoogelt und nicht gefunden haben.

Die beiden ergehen sich in einer wütenden Diskussion über den Mietmarkt. Die Situation müsse sich ändern, meint Jürgen Tonkel. Daniel Jarnecic glaubt aber, dass es noch wesentlich schlimmer werden wird.

Daniel Jarnecic: Die Frage ist, wo bleibt denn dann der Grantler, der gemütlich sein Bier trinkt? Der wird da keinen Platz mehr haben. Die kleinen Rückzugsorte gehen verloren.

Jürgen Tonkel: Ich hab in den Achtzigerjahren zum ersten Mal im Glockenbachviertel gewohnt, an der Hans-Sachs-Straße. Das war einfach noch was ganz anderes. Da gab's in den Hinterhöfen noch billige Werkstätten, Lederer und Maler. Diese Leute mussten alle raus. Dieses 'früher war alles besser'. Ich muss sagen: Hier stimmt das.

Daniel Jarnecic: Und auf der Nackertenwiese am Schwabinger Bach liegt mittlerweile auch die Studentenmasse. Früher war's so schön, schaust rüber, kennst die fünf Nackten. Mittlerweile liegen da alle drüben. Angezogen.

Jürgen Tonkel lacht schallend, ertränkt den Frohmut aber schnell wieder mit einem Schluck Bier. Jürgens Wahlheimat Giesing löst bald auch das klassischste aller Münchner Streitgespräche aus.

Daniel Jarnecic: Bist du ein Blauer oder ein Roter?

Jürgen Tonkel: Leider ein Roter.

Daniel Jarnecic: Und das in Giesing! Seelenlos, der Mann.

Jürgen Tonkel: Seelenlos sagt er zu mir! Viele Freunde von mir sind Sechzger, ich beobachte den Verein schon in all seiner . . .

Daniel Jarnecic: Blüte! Nennen wir es Blüte!

Jürgen Tonkel: . . . seinem Kampf ums Dasein, verzweifeltem Ringen um alte Größe . . .

Daniel Jarnecic: Das hast du nicht verstanden, das ist eine Lebenseinstellung! Erfolgreich sein kann ja jeder.

Jürgen Tonkel: Da muss ich dir widersprechen. Das wird immer so gesagt, aber erfolgreich sein kann nicht jeder, das ist schon schwer.

Daniel Jarnecic: Ich will deinen Erfolg jetzt nicht schmälern . . .

Jürgen Tonkel: Die Sechzger sind eigentlich vom Entertainmentfaktor riesig, und ich würde mir auch die Liga-Derbys zurückwünschen. Und die Leute, die den Verein immer noch unterstützen, das ist schon ein ganz besonderer Schlag. Aber trotzdem Daniel: mein Beileid.

Das Thema Spießigkeit lässt die beiden nicht los.

Jürgen Tonkel: Weißt du, warum du in meinen Augen nicht spießig bist?

Daniel Jarnecic schüttelt den Kopf. Jetzt ist er gespannt.

Jürgen Tonkel: Hast du ein Tattoo?

Erneut Kopfschütteln.

Jürgen Tonkel: Na eben. Ich find Tattoos mittlerweile das Spießigste, was es gibt.

Daniel Jarnecic: Wenn ich jetzt einen Opa mit Ankertattoo seh, dann weiß ich aber schon, oho, der war mal was. Der ist kein Spießer.

Jürgen Tonkel: Aber ein junger Mann, der kein Tattoo hat: Der ist für mich das Gegenteil von spießig. Ich sag immer, die jungen Münchner werden gehirngewaschen. Ich komm ja eigentlich aus einer radikaleren Szene, habe früher viel Musik gemacht.

Daniel Jarnecic: Sehr erfolgreich, wie man heute sieht. Musiker bist du ja nicht geworden.

Jürgen Tonkel: Geh du! Aber es ist doch so: Immer wird dir in der Werbung gesagt ,Be yourself, be individual'. Aber soll ich dir was sagen, die sehen alle gleich aus, ob Mädel oder Burschen. Es gibt das Individuelle eigentlich kaum noch, außer die unterschiedlichen Tattoos, und ob der Ring in der linken oder rechten Nasenhälfte sitzt. Das eigentlich Individuelle ist auf dem Rückzug.

Daniel Jarnecic schluckt. Harte Worte über seine Generation. Jürgen Tonkel redet sich in Rage. Er weiß nämlich auch, woran es der jungen Generation angeblich fehlt.

Jürgen Tonkel: Die gehen viel zu wenig auf die Straße, eigentlich gar nicht. Sie müssten viel mehr rebellieren. Auf die Idee kommt ja gar keiner mehr. Da steht ein Haus leer, das besetzen wir jetzt einfach. Früher sind die Leute einfach rein und haben gesagt: Fuck you. Das hat es in München schon immer weniger gegeben als woanders, auch ich habe in meiner Jugend nie ein Haus besetzt. Aber wir sind auf die Straße gegangen, haben protestiert gegen Franz Josef Strauß, gegen den Nato-Doppelbeschluss. Warum geht ihr nicht auf die Straße?

Daniel Jarnecic: Weil ich zu bequem bin. Uns geht's zu gut, wir sind zu angepasst. Alle erben ja hier eine Eigentumswohnung, überspitzt gesagt. Die meisten werden mit Mitte bis Ende 20 noch von ihren Eltern unterstützt. Das gab's früher einfach nicht. Man wird langsamer erwachsen, es verschiebt sich.

Jürgen Tonkel: Ihr habt länger keine Verantwortung. Heute ist man mit 30 wie früher mit 20.

Die beiden widmen sich wieder sinnierend ihrem Obazdn, sie kämpfen sichtlich mit ihren Portionen.

Jürgen Tonkel: Ich hab ja gleich gesagt, einer langt, und wir können teilen! Aber du wolltest ja ned hören!

Daniel Jarnecic: Der Obazde ist ja auch so eine Sache. München hat nichts mehr, was es wirklich pflegt. Ich hab noch eine Freundin, die einen grandiosen Obazdn machen kann, sonst weiß niemand mehr, wie das geht. Der Rest isst Frozen Joghurt.

Die Sonne bricht durch die Wolkendecke, Daniel Jarnecic blinzelt. Das Bier ist leer, die Brotzeit weitgehend vernichtet. Die beiden verabschieden sich. Jürgen Tonkel setzt seine Sonnenbrille auf, sie treten auf die Adalbertstraße hinaus.

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