Ein Leben in Altersarmut:"Ich steh' schon wieder auf"

Seit dem Schlaganfall ist alles anders: Irmtraud H. pflegt ihren Lebensgefährten seit 2007. Doch das Geld reicht hinten und vorne nicht. Sie sind auf die Grundsicherung vom Sozialamt angewiesen. Und auch die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung ist alles andere als geeignet für die Pflege.

Sven Loerzer

Es ist ein guter Tag für Irmtraud H., "auch wenn ich seit sechs Uhr am Rennen bin". Denn damit die 71-Jährige ihren Arzttermin wahrnehmen kann, muss alles klappen wie am Schnürchen. Der Pflegedienst, der ihr bei der Betreuung ihres schwer kranken Lebensgefährten Wolfgang Z. hilft, war schon da, inzwischen ist eine Hospizhelferin von "Dasein" gekommen, damit der 61-Jährige, der an den Folgen eines Schlaganfalls und unter Blasenkrebs leidet, nicht alleine bleiben muss. Gut an diesem Tag ist, dass der Arzt Irmtraud H. den Gips an der linken Hand wieder abnimmt, der ihr das Leben noch schwerer gemacht hat. Schon seit längerem plagt sie eine Schleimbeutelentzündung an der Hüfte.

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Irmtraud H. und ihr Lebensgefährte Wolfgang Z.: Weder schwere Krankheit noch ein Leben in Armut hat das Paar auseinander gebracht.

Anfang Oktober, als sie an der Ampel die Straße überqueren wollte, "versagte mein Bein, ich bin volle Pulle gelegen". Mit der Hand krachte sie gegen die Bordsteinkante, das tat ganz gemein weh. "Ich dachte, das ist eine Prellung und bin erst nicht zum Arzt." Sie ist hart im Nehmen, "das muss ich auch sein, ich kann doch nicht wegen jedem bisschen jaulen". Aber 14 Tage später hatte sich das immer noch nicht gebessert - ein Bruch des Mittelhandknochens. Sechs Wochen Gips, das machte alles noch schwieriger. Aber Irmtraud H. hielt durch. "Ich habe trotzdem gekocht und abgespült", viel isst Wolfgang Z. ohnehin nicht. "Er lebt nur noch von Schmerzmitteln."

Die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung ist alles andere geeignet für die Pflege. Das Bad ist viel zu eng, um dort einen Menschen zu waschen, der selbst nicht mehr aufstehen kann. Im Haus gibt es zwar einen Lift, aber ein paar Stufen machen es unmöglich, Wolfgang Z. im Rollstuhl an die frische Luft zu bringen. So bleibt er in seinem Pflegebett, Irmtraud H. schläft im Bett daneben. Und wenn sie tagsüber im Wohnzimmer ist, dann ist immer das Babyphone eingeschaltet, damit sie seinen schwachen Ruf auch sicher hört. "Schatz, was ist?", fragt sie dann und richtet ihm liebevoll das Kopfkissen. Neben dem Bett steht ein Regal, auf dem sich verschiedene Inkontinenzartikel stapeln: Kleine und große Vorlagen, große Unterlagen, Windelhosen, die das Paar viel Geld kosten, weil vieles die Kassen nicht bezahlen.

Dazu kommen die Ausgaben für nicht rezeptpflichtige Arzneimittel, wie etwa ein Mittel gegen Blasenschmerzen, das Wolfgang Z. zusätzlich zu dem Cocktail aus schweren, verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln erhält, oder die Abführmittel. Irmtraud H. wollte eigentlich längst ihre Zähne richten lassen, aber dafür reicht das Geld nicht. Wichtiger ist ihr, ihm Gutes zu tun. "Er trinkt wahnsinnig gern Limo", ein Nachbar besorgt ihr regelmäßig einen Kasten.

Kennengelernt hat sich das Paar 1995 bei einem Kuraufenthalt. Beide waren geschieden, er hatte gerade eine Operation an der Halswirbelsäule hinter sich, sie am Rückgrat. Für ihn, der zuletzt als Fensterbauer gearbeitet hatte, war es beruflich das Ende, weil er keine Lasten mehr heben durfte. Er blieb arbeitslos, betreute später seine Mutter, die zunehmend unter Demenz litt. Doch 2007 ereilte ihn bei einer erneuten Halswirbeloperation ein Schlaganfall, infolgedessen er halbseitig gelähmt blieb. Irmtraud H. hätte "ein schlechtes Gewissen, wenn er ins Pflegeheim hätte gehen müssen".

Ihre Rente und seine kleine Erwerbsunfähigkeitsrente reichen nicht aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. So bekommen sie Grundsicherung vom Sozialamt. Die vielen zusätzlichen Ausgaben wegen der Krankheit machen das Leben schwer. Dabei spart Irmtraud H. ohnehin, wo es nur geht. Doch jetzt braucht sie einen neuen Kleiderschrank. Denn der ist 40 Jahre alt, stammt von Wolfgangs Mutter, die Schiebetür lässt sich kaum noch öffnen. Früher ist sie noch putzen gegangen und hat für eine alte Frau gekocht, um die Rente aufzustocken, aber seit dem Schlaganfall braucht der Lebensgefährte ihre ganze Kraft.

Absturz in die Altersarmut

Wer lange arbeitslos bleibt, wie Wolfgang Z., hat im Alter keine Chance mehr , der Armut zu entrinnen. Etwa 15.000 Münchner, die älter sind als 50 Jahre, leben als Langzeitarbeitslose von Hartz IV. Finden sie keinen Job mehr, droht der Absturz in die Altersarmut, denn dann können sie nicht ausreichend Rentenanwartschaften aufbauen, um in einer Stadt mit hohen Mieten aus eigenem Einkommen ihren Lebensunterhalt zu sichern. Rund 12.000 Münchner beziehen heute schon Grundsicherung im Alter, die Zahl wird sich bis 2020 verdoppeln. Lilli Kurowski vom Verein Einspruch, der seit 2005 Hartz-IV-Bezieher berät, kennt die Schicksale, die dahinterstehen. Es ist ein bitterer, bis zum Lebensende unumkehrbarer Abstieg in die Armut. Hartz IV gewährt Freibeträge beim für die Altersvorsorge aufgebauten Vermögen. Doch bevor es Sozialhilfe zur Aufstockung der Rente gibt, muss erst das Ersparte weitestgehend verbraucht werden.

Oft seien es relativ gut qualifizierte ältere Frauen, die aus Hartz IV aber nur noch in die Leiharbeit herausfinden und dort in der untersten Lohnstufe landen, wie Kurowski weiß. "Viele können sich da schon ausrechnen, dass sie später einmal Grundsicherung brauchen werden." Denn zumeist hätten sie zuvor wegen Kinderzeiten keinen lückenlosen Rentenbeitragsverlauf und mit Niedriglöhnen dann auch keine Chance mehr, ausreichende Rentenanwartschaften aufzubauen. Gesundheitliche Probleme oder Stellenabbau beenden oft vorzeitig die Berufslaufbahn von Männern. Gerade für ältere Arbeitnehmer würden kaum noch Umschulungen oder Anpassungsqualifizierungen angeboten: "Da ist man auch als Ingenieur sehr schnell abgehängt, zumal viele Betriebe nicht weiterqualifizieren." Wer über Jahre hinweg von Hartz IV leben muss, verarmt. Im Alter werde es dann noch schlimmer, vor allem wenn Krankheiten dazukämen.

Wie etwa bei der 76-jährigen Hanna B., die nach mehrmaligen Augenoperationen nur noch auf einem Auge mit einer Spezialbrille einigermaßen sehen kann. Weil die mehr als doppelt so viel kostet, wie sie monatlich zum Leben hat, zahlt sie die Brille in monatlichen Raten von 25 Euro ab. Ihre Tätigkeit als Fahrradkurier, die ihr ein kleines Zubrot sicherte, musste sie aufgeben, weil sie zu schlecht sieht. Bis zum Alter von 70 Jahren arbeitete sie in der Kinderbetreuung. Rente und Wohngeld zusammen liegen nur ein paar Euro über dem Betrag, der einer Sozialhilfebezieherin in München zusteht. Von 384 Euro monatlich wird sie sich auf längere Sicht kein neues Bett leisten können, sondern weiterhin auf zwei alten Matratzen auf dem Boden schlafen müssen: "Es ist mir peinlich rumzubetteln."

Auch Irmtraud H. hat das Leben nicht verwöhnt, bevor sie glücklichere Jahre mit Wolfgang Z. verbrachte: Die jüngere ihrer beiden Töchter sitzt nach einer Gehirnhautentzündung im Rollstuhl, der Sohn ist mit 16 Jahren tödlich verunglückt - schuld war ein betrunkener Autofahrer. Und der geschiedene Mann hinterließ ihr einen Haufen Schulden. "Ich habe gelernt zu kämpfen und mich selbst aus der Schiete holen."

Auch Wolfgang Z. kapituliert nicht, obwohl der Urinbeutel wieder mal rot vom Blut ist. Alle sechs Wochen muss er ins Krankenhaus, um die Harnleiterschiene wechseln zu lassen. Vor kurzem war der Medizinische Dienst der Krankenversicherung da, um zu begutachten, ob er die höchste Pflegestufe bekommt. Als ihn der Sachverständige aufforderte, die linke, seit dem Schlaganfall gelähmte Hand zu öffnen, gab Wolfgang Z. mit Galgenhumor zurück: "Wenn Sie mir sagen wie, dann gerne."

Tapfer schiebt er die Angst vor all dem, was noch kommt, beiseite und versucht seiner Irmtraud, die ihm liebevoll mit der Hand durchs Haar fährt, Mut zu machen: "Ich steh' schon wieder auf."

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