Serie: Frauen machen Politik:"Für uns sind diese Ehrenamtlichen unverzichtbar"

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Engagement außerhalb politischer Gremien: Renate Müller-Heinisch liest mit Grundschülern. (Foto: Camilla Kohrs)

Sie lesen mit Grundschülern, begleiten Senioren beim Sterben und organisieren Spieleabende für Menschen mit Behinderung. Das alles ist mehr als nur Freizeitbeschäftigung.

Von Camilla Kohrs und Christina Hertel

"Er wird auf seinem Land in Neuseeland, im Garten der glücklichen Toten, in Har - MOH - ni...", liest Zarina, stockt und will dann schnell weiterlesen. "Nein", sagt Renate Müller-Heinisch, die neben ihr sitzt. "Nicht Har - MOH - ni, Harmonie", sagt sie mit der Betonung auf der letzten Silbe und zeigt auf das Wort. Sie beugen sich über die Kunterbunte Kinderzeitung, die Lesepaten wie Müller-Heinisch als Materialien gestellt bekommen, und lesen einen Text über das Leben des österreichischen Künstler Friedensreich Hundertwasser.

Gemeinsam sitzen sie an einem kleinen quadratischen Tisch auf knallgrünen und knallroten Stühlen in der Schulbibliothek. Die Schule hat den Raum eigens zum Lesen eingerichtet. In einem Dutzend Regalen stehen Bücher und Spiele, dazwischen liegen Sitzkissen. An die Wand über dem Sofa haben Lehrer Blingi, den lila Lesewurm, gemalt. Weil Zarina mehr Bilder von Hundertwasser sehen möchte, hat Müller-Heinisch ihr iPad mitgebracht. "Das sieht komisch aus", sagt das Mädchen und kichert, als es das Magdeburger Hundertwasser-Haus sieht. "Möchtest du nicht in so einem Haus wohnen?", fragt Müller-Heinisch. "Nee, da sollte ein Clown wohnen, der im Zirkus arbeitet", sagt Zarina.

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Müller-Heinisch engagiert sich seit acht Jahren als Lesepatin bei der Organisation Tatendrang, kommt jeden Montag in die Grundschule an der Plinganserstraße am Harras, die früher auch ihr Sohn besuchte, und liest mit Schülern. Früher arbeitete sie in einer Bank, verlor dann ihrem Job. "Ich war aber finanziell gut abgesichert, sodass ich nicht unbedingt dazu und dazu und dazuverdienen musste."

In einem Zeitungsartikel erfuhr sie von der Lesepatenschaft der Münchner Freiwilligen-Agentur Tatendrang. Seitdem hat sie an der Grundschule schon einige Kinder bis zum Schulabschluss betreut, in diesem sind es drei: Neben Zarina liest sie mit einem Jungen, der mit seinen Eltern aus Syrien geflüchtet ist, und mit einem afghanischen Mädchen.

Es gibt nicht das eine Problem, weshalb Schüler einen Lesepaten bekommen, die Gründe sind unterschiedlich: mal, weil das Kind Probleme mit dem Lesen hat. Mal, weil es zu Hause niemanden hat, der zuhört, und mal, weil es aus einem anderen Land nach München gekommen ist und die Eltern kein Deutsch sprechen. Lesepatin Müller-Heinisch kann Geschichten von allen erzählen. Insgesamt zwölf Lesepaten der Organisation Tatendrang sind derzeit an der Schule im Harras, erklärt Rektorin Ulrike Bauer. Hinzu kommen weitere Ehrenämtler, zum Beispiel von SIS (Seniorpartner in School), Rentner, die in Konflikten vermitteln. Dann gibt es noch die "Förderoma", sagt Bauer, die einigen Schülern Nachhilfe gibt und bis vor kurzem gab es noch die Küchenfee, die aber aufgrund neuer Vorschriften nun nicht mehr den Kindern das Essen anrichten dürfe.

Für ihre Schule, an der Kinder aus 39 Nationen unterrichtet werden, seien die ehrenamtlichen Lesepaten ein großer Gewinn: "Die Kinder haben dann endlich mal jemanden, der nur für sie kommt", sagt Bauer. Oft gehe es gar nicht ums Lesen, sondern darum, dass jemand mal zuhört, einen in den Arm nehme. Die Lesepaten sind für die Kinder gleichzeitig Freunde, Beratung und Unterstützung und haken genau an dem Punkt ein, den Lehrer nicht neben ihrem Job auch noch leisten können. "Für uns als Schule sind diese Ehrenamtlichen unverzichtbar, wir brauchen sie einfach", sagt Bauer.

Frauen engagieren sich anders als Männer

Das Ehrenamtler unerlässlich sind, zeigt sich nicht nur an der Grundschule im Harras. Als 2015 viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, fingen Freiwillige einen großen Teil der Probleme auf, versorgten die Menschen mit Essen und Hygieneprodukten, organisierten Kinderbetreuungen und gaben Deutschunterricht - unbezahlt. Fast die Hälfte der Deutschen engagiert sich, entweder in Vereinen oder Verbänden oder in selbstorganisierten Gruppen. Das geht aus dem Freiwilligensurvey hervor, der alle fünf Jahre durchgeführt und vom Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) wissenschaftlich geleitet wird. "Es gibt nicht den typischen freiwillig Engagierten beziehungsweise die typische freiwillig Engagierte", sagt Nadiya Kelle, die an dem Zentrum zu freiwilligen Engagement und Partizipation forscht. Bestimmte Merkmale zeigen sich aber schon. Besonders Erwachsene in einem Alter von 40 bis 65 Jahren und mit einem höheren Bildungsstand engagieren sich, die meisten Ehrenamtler finden sich in den Bereichen Sport und Bewegung.

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Auch zwischen den Geschlechtern gibt es Unterschiede: Frauen engagieren sich etwas seltener als Männer. Laut Kelle findet das Engagement am häufigsten in Vereinen und Verbänden statt; Männer engagieren sich dort häufiger. Frauen finden sich eher in informellen, also lockerer organisierten Gruppen wieder, wie Selbsthilfegruppen, Initiativen und Projekten besonders in Schulen und Kindergärten. Einen finanziellen Vorteil oder bessere berufliche Chancen erhoffen sich die meisten laut der Umfragen nicht. "Viele zielen hauptsächlich auf ihr Wohlbefinden und das der anderen ab", sagt Kelle. Dabei sind Spaß und der Wille, die Gesellschaft mitzugestalten, wichtige Punkte.

Auch Müller-Heinisch sagt, sie wolle etwas zurückgegeben. "Ich habe mir gedacht, bei mir ist es ja eigentlich gut gelaufen", sagt sie. Das Ehrenamt mache ihr Spaß. "Werden Sie von ihrem Chef nach dem Urlaub empfangen mit: ,Endlich sind Sie wieder daaaaa' und dann umarmt?", sagt Müller-Heinisch. Sie profitiere auch selbst und lerne andere Lebensrealitäten kennen. Da war zum Beispiel der Junge, dessen Mutter abhaute, als er noch klein war. Der Vater war überfordert, und der Junge fiel auf, weil er Probleme mit seinen Mitschülern hatte, log und auch mal etwas mitgehen ließ. "Der war schwierig, aber ganz ein lieber Kerl", sagt Müller-Heinisch. Sie las mit ihm Pinocchio. Immer, wenn sie dann das Gefühl gehabt habe, dass er Junge schwindele, habe sie gesagt: "Ich glaube, deine Nase wächst." Während Müller-Heinisch das erzählt, führt sie ihre Finger an die Nase und zieht ihre Hand nach vorne. Ganz so, wie sie es dem Jungen damals zeigte. Manchmal habe sie auch gar nichts gesagt, einfach nur die wachsende Pinocchionase gezeigt. "Nein nein", habe der Junge dann geantwortet. "Ich lüge dich nicht mehr an." Müller-Heinisch lacht und sagt: "Ach, den vermisse ich immer noch."

An einem Wintertag, es ist kalt und die Straßen sind weiß, spaziert Susanne Dau-Kayser durch München, als ihr ein Gedanke kommt: "Wenn du irgendwann tot bist, wirst du nie wieder sehen, wie die Flocken vom Himmel fallen, nie wieder hören, wie der Schnee unter den Schuhen knirscht, nie wieder die Kälte fühlen." Aber was, fragte sie sich, ist dann? So erzählt Susanne Dau-Kayser heute, zehn Jahre später, in einem Café in Haidhausen von dem Moment, der für sie der Beginn eines Engagements war, das inzwischen einen großen Teil ihres Lebens einnimmt: Susanne Dau-Kayser, 59 Jahre alt, eine freiberufliche Therapeutin und Übersetzerin, arbeitet als eine von 250 ehrenamtlichen Hospizhelfern für den Christophorus Hospiz Verein.

Seitdem sie 2008 die Ausbildung dazu machte, begleitete sie etwa zehn Menschen in den Tod. Mit manchen verbrachte sie fast zwei Jahre, mit einigen viele Monate, mit wenigen bloß ein paar Stunden. Sie las einer blinden Dame Goethe vor, sie beobachtete, wie ein altes Musiker-Pärchen, er Orgelspieler, sie Flötistin, langsam von einander Abschied nahm. Keinen von ihnen sah Susanne Dau-Kayser sterben, obwohl sie bei allen viele Stunden am Bett saß. Denn meistens suchen sich Sterbende den Moment, wenn gerade niemand im Zimmer ist, das hätten ihr auch andere Hospizhelfer so berichtet.

Etwa zwei bis drei Stunden in der Woche verbringt Dau-Kayser mit Menschen, die bald sterben. Die meisten besucht sie Zuhause. Eine Erleichterung seien ihre Besuche vor allem für die Angehörigen, die in der Zeit einkaufen gehen können - ohne Angst, dass der Kranke alleine ist. Aber auch für den Sterbenden sei sie eine Hilfe - weil er mit ihr Fragen besprechen kann, die er sich bei anderen nicht zu stellen traut. Ob der Tod weh tut, was danach kommt, welchen Sinn das alles hat. Eine eindeutige Antwort hat Dau-Kayser nicht - darüber sprechen helfe aber manchen. Doch für die für viele, besonders die Älteren, sei der Tod bis zum Schluss ein Tabu.

Sie habe verstanden, dass am Ende des Lebens nichts mehr zählt. "Kein Titel, kein Geld, kein beruflicher Erfolg." Und sie habe gelernt, dass der Mensch ein zähes Tier sei, das selbst den schlimmsten Schmerz aushalten könne. Zweidrittel der ehrenamtlichen Hospizhelfer seien Frauen, schätzt Dau-Kayser. Woran das liegt, kann sie nicht sagen. "Vielleicht können Frauen handfester mit solchen Themen umgehen." Während des Zweiten Weltkriegs, so sei es ihr erzählt worden, seien es auch die Frauen gewesen, die aus den Trümmern der zerbombten Städte die Leichen bargen.

Inga Fischer hilft in vielen Bereichen. Dabei habe sie gelernt, demütig zu sein

Inga Fischer sitzt im Vorstand des Vereins für Fraueninteressen. (Foto: Stephan Rumpf)

Als Personalleiterin ist Inga Fischer in fremde Länder gereist, doch einen weiten Blick auf die Welt habe sie erst durch eine Arbeit erlangt, für die sie kein Gehalt, keinem Urlaub, keine Beförderung bekam. Seit 20 Jahren ist Inga Fischer in den verschiedensten Bereichen ehramtlich tätig. Sie war Lesepatin, Schulsozialarbeiterin, Mitglied im Elternbeirat, sie organisierte Kindergottesdienste und Kindergartenausflüge, sie singt im Kirchenchor, sitzt im Vorstand des Vereins für Fraueninteressen, leitet einen Spieleabend für Menschen mit einer Behinderung und sammelt Pakete für bedürftige Frauen. In ihr altes Leben, in das Unternehmen, in dem sie gut verdient habe und für 180 Mitarbeiter zuständig gewesen sei, möchte sie heute nicht wieder zurück, sagt Inga Fischer. Denn schöner als Geld und Anerkennung sei für sie, etwas in einem Menschen zu bewirken.

Als ihre Kinder auf die Welt kamen, heute 20 und 16 Jahre alt, hörte Inga Fischer auf zu arbeiten und begann, sich vom Turnverein bis zum Elternbeirat überall zu engagieren, wo Bedarf war. Sie sei gerne Zuhause gewesen, doch nach einer Zeit habe ihr irgendetwas in ihrem Leben gefehlt. "Man bekommt dafür keine Anerkennung. Im Zweifelsfall wird man noch dafür belächelt." Doch mehr als das störte sie, dass ihr der Fokus in ihrem Leben abhanden gekommen zu sein schien. Schließlich nahm sie mit 39 an dem Seminar "Neuer Start" des Vereins für Fraueninteressen teil. Frauen können dort mit der Unterstützung von Dozentinnen nach der Familienzeit die Rückkehr in ihren Beruf planen. Und danach wurde sie selbst gefragt, ob sie Dozentin des Seminars sein möchte. Seitdem gehen bei Inga Fischer Ehrenamt und Beruf quasi in einander über.

30 Stunden die Woche ist sie bei dem Verein angestellt. Dort ist sie neben dem Seminar "Neuer Start" auch für den Betreuungsdienst "Zu Hause gesund" werden zuständig, der Ehrenamtliche zu kranken Kindern nach Hause schickt, damit die Eltern arbeiten können. Gleichzeitig ist Fischer seit gut zehn Jahren ehrenamtlich Teil des Vorstands des Vereins, der rund 300 Mitglieder und 13 Einrichtungen hat. In ihrem Umfeld engagierten Frauen sich häufiger als Männer ehrenamtlich, sagt Fischer. "Aber Frauen können es sich meistens eher als Männer leisten, sich zu fragen, was ihnen wirklich Freude macht." Weil Männer dafür als Ernährer der Familie oftmals gar keine Zeit hätten.

Außerdem sammelt Fischer in der Weihnachtszeit Päckchen für bedürftige Frauen und organisiert alle paar Wochen gemeinsam mit einer Bekannten einen Spieletreff für Menschen mit einer Behinderung in einem Wohnheim der Pfennigparade. Durch diese Arbeit habe sie gelernt, demütig zu sein. Ihr sei bewusst, dass sie ein privilegierter Mensch sei - der anderen jedoch gerne etwas zurückgeben würde, sagt Fischer.

© SZ vom 07.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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