Durchnässt und erschöpft kletterte die Frau mit ihrem Baby im Arm aus dem Schlauchboot. An dem Neugeborenen hing noch die Nabelschnur. Die Mutter hatte erst kurz zuvor auf der anderen Seite des Meeres das Kind zur Welt gebracht, in einem Wald in der Türkei. Annett Oertel war froh, dass sie aus München Nabelklemmen mitgenommen hatte. Ein Gegenstand, den sie in ihrem Arbeitsalltag ständig benutzt. Aber in Kreißsälen, unter hygienischen Bedingungen. Auf der griechischen Insel Lesbos war das alles anders.
An der Küste kamen Menschen in überfüllten Booten an, für die es nur noch den Weg über das Mittelmeer nach Europa gab. Darunter waren auch Frauen mit Babys und Schwangere, die Angst hatten, dass ihr Baby die Strapazen nicht überleben würden. Oertel hatte auch ein Gerät mitgebracht, mit dem sie die Herztöne der Ungeborenen abhören konnte. Sie erinnert sich: "Das war oft schon eine große Beruhigung für die Frauen."
Oertel ist Hebamme, die 40-Jährige arbeitet im Klinikum Schwabing. Im November vergangenen Jahres ist sie nach Lesbos geflogen, während ihres Urlaubs, um Flüchtlingen zu helfen. Spontan, gemeinsam mit einer befreundeten Medizinstudentin. Im Gepäck hatte sie Koffer voll mit Insulin, Rettungsdecken, Antibiotika, Kochsalzlösungen. Als sie nach zwei Wochen zurückkehrte in ihren Alltag, da war Oertel klar, dass sie hier weitermachen muss. Sie richtete eine Hebammen-Sprechstunde in einer Münchner Flüchtlingsunterkunft ein und betreut dort regelmäßig Schwangere und Mütter.
Der Ausländerbeirat, die Stadt und die Lichterkette haben Annett Oertel den Förderpreis "Münchner Lichtblicke 2016" für ihr Engagement verliehen. Mit dem Preis werden Initiativen, Projekte, Schulen und Personen ausgezeichnet, die sich mit kreativen Ansätzen für Integration und gegen Rassismus einsetzen. Oertel freut sich darüber, dass damit ihre Arbeit gewürdigt wird. Doch es ist ihr auch ein wenig unangenehm, dass sie den Preis erhalten hat. "Ich bin doch nur eine von vielen", sagt sie. Er stehe eigentlich für all die Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen.
Zwei Monate bevor sie nach Lesbos reiste, hatte Oertel bereits in München einen Verein mitgegründet, um Asylsuchende zu unterstützen. Doch als sie sah, wie viele Leute sich hier engagieren, und sie von den katastrophalen Zuständen in Ungarn hörte, fuhr sie mit einer Mitfahrgelegenheit nach Budapest. Und von dort an die ungarisch-serbische Grenze, wo viele Menschen festsaßen.
Die Morgensonne scheint in das Wohnzimmer der kleinen Wohnung, in der Oertel mit ihrem Sohn und ihrem Freund lebt. Sie trägt T-Shirt und Jeans. Man sieht ihr die Nachtschicht im Kreißsaal nicht an. Wenn sie von ihren Erlebnissen in Ungarn und Griechenland erzählt, dann laufen die Bilder wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab. Oertel ist nicht nur ausgebildete Hebamme, sie hat nach ihrem Germanistikstudium auch noch eine Drehbuchausbildung abgeschlossen. Und sie erzählt gerne und eindrücklich, mit ruhiger Stimme. Von den Flüchtlingskindern, die mit Fieber und verklebten Augen die Grenze erreichten. Von einem Mann mit offener Kopfwunde. Von der Angst der Flüchtlinge vor der ungarischen Polizei. Von den Frauen, die nicht stillen konnten und nur kaltes Wasser hatten, um ihren Kindern Flaschennahrung zuzubereiten. Von Babys, die hungerten. "Und das in Europa", sagt Oertel.
Die Hebamme hat gemeinsam mit anderen Freiwilligen die Menschen empfangen, ihnen Kleidung gegeben, sie mit Schuhen versorgt, von denen es nie genug gab, sie medizinisch mit dem Notwendigsten behandelt. Sie hat geschaut, was nötig war, und gemacht, was möglich war. Unaufgeregt und pragmatisch. So wie es von ihr als Hebamme bei der Arbeit erwartet wird.
Wenn es regnete, verwandelten sich auf Lesbos die notdürftigen Camps der Flüchtlinge in eine Matsch-Landschaft. Die Menschen standen in langen Schlangen an, um etwas zu essen zu erhalten. Eine Frau, die die Küste erreichte, war kurz vor der Niederkunft ihres Kindes, die Wehen hatten schon eingesetzt. "Wir haben ihr gesagt, dass sie bei uns bleiben soll, bei dem kleinen Team aus freiwilligen Ärzten und Hebammen." Doch sie ist weitergereist. Oertel hat auch eine Ohnmacht gespürt angesichts der Leids. "Aber wir konnten auch vielen Leuten helfen. Nichts Weltbewegendes. Aber die Kleinigkeiten ergeben ein großes Ganzes, da wir viele Helfer waren."
Drehbücher zu schreiben, davon konnte Oertel als alleinerziehende Mutter nie leben. Also hat sie andere Jobs gemacht. Bis sie irgendwann ihren Traum realisieren konnte: eine Ausbildung als Hebamme. Dabei kam sie auch zum ersten Mal intensiver mit Flüchtlingsfrauen in Kontakt. Nigerianerinnen, die noch mit ganz anderen Sorgen in die Münchner Klinik kamen als die anderen Frauen. Denen es oft an den grundlegenden Dingen fehlte.
Seit zweieinhalb Jahren arbeitet Oertel nun im Kreißsaal im Klinikum Schwabing. Ein anstrengender Job, im Schichtdienst, mit hoher Verantwortung. Manchmal fragen Kollegen sie, warum sie sich im Urlaub nicht an den Strand lege und erhole. Warum sie nach einer Nachtschicht in der Klinik auch noch in einer Flüchtlingsunterkunft arbeite. "Das weiß ich auch nicht", sagt Oertel und wirkt selbst etwas überrascht angesichts der Frage. "Ein inneres Bedürfnis." Vielleicht ist die Frage auch falsch gestellt. "Wie kann ich nichts machen, wenn ich weiß, ich kann diesen Menschen auch helfen?", sagt sie. "Und wie würde es mir gehen, wenn ich mit meiner Familie dort verzweifelt sitzen würde?"
Vielleicht hat es auch mit Oertels eigener Geschichte zu tun. Sie ist in der DDR aufgewachsen, ihre Eltern stellten 1987 einen Ausreiseantrag. Es folgten Schikanen, die Eltern verloren ihre Jobs, aber ausreisen durfte die Familie erst zwei Jahre später. Alles was sie, ihre Schwester und ihre Eltern mit in ihr neues Leben nehmen konnten, musste in einen Wartburg passen. Im Westen wohnten sie zunächst bei Verwandten. Oertel hat erlebt, was es bedeutet, ganz neu anzufangen, als Fremde. Und was es heißt, nicht mehr in seinem Beruf arbeiten zu dürfen. Ihre Mutter war in der DDR Lehrerin, doch ihr Studium wurde in Bayern nicht anerkannt. Eine Situation, die viele Flüchtlinge heute auch in Deutschland erleben.
Sie überlegt, Kurse zu Verhütungsmethoden anzubieten
Einmal in der Woche geht Oertel in die Gemeinschaftsunterkunft. Für viele Frauen dort ist sie ein fester Anlaufpunkt geworden. Die Hebamme kümmert sich um Mütter, die gerade entbunden haben. Erklärt ihnen, was Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt sind, welche Beikost sie ihren Babys geben können. "Es ist auch viel psychologische Arbeit", sagt sie. Denn oft sind die Frauen alleine, ihnen fehlt die Unterstützung der Familie. Oertel möchte die Sprechstunden dort ausweiten. Und sie überlegt auch, Kurse zu Verhütungsmethoden anzubieten.