Transidentes Leben:Wie Gott sie schuf

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Sabine Estner wurde als Junge geboren. Nach einem langen Leidensweg und geschlechtsangleichenden Operationen lebt die gläubige Christin heute als transidente Frau. (Foto: Robert Haas)

Der lange Leidensweg vom zarten, katholischen Buben zur transidenten Frau: Sabine Estner hat ein Buch geschrieben über das Suchen und Finden der eigenen Identität. Ohne tiefes Gottvertrauen hätte sie es nicht geschafft, sagt sie.

Von Andrea Schlaier

In ihrer Not hat Sabine Estner nichts unversucht gelassen: Gebete, Geisteraustreibungen, über 700 Heilungsgottesdienste. Weder Handauflegen noch alchemistische Tinkturen und Salben haben geholfen. Mit 51 Jahren ist sie am Ende. Ist er am Ende hätte es damals von außen betrachtet heißen müssen. Denn 2017 trug Sabine Estner noch einen männlichen Vornamen, hatte als Mönch das Kloster verlassen und wollte endlich raus: aus ihrem „falschen“ Körper.

Vor eineinhalb Jahren hat die heute 58-Jährige ihre Geschichte in der SZ in großem Stil öffentlich gemacht. Ein mutiger Schritt. Damit wurde ihre lange Leidensgeschichte vor aller Augen lesbar, auch für das soziale, katholisch geprägte Umfeld, in dem sie erwachsen geworden ist. Lesbar der Übergriff ihres Vaters, eines Musiklehrers, der versucht hatte, ihr alles Weibliche aus dem Leib zu prügeln. Lesbar die lang verdrängte sexuelle Gewalt, die ihr der Onkel als Kind angetan hatte und später auch noch ein Therapeut. Ein Leben gepflastert mit Traumata. Vergangenes Jahr hat sich Sabine Estner hingesetzt und in eigenen Worten ihren Weg in den richtigen Körper beschrieben: „Ich bin, wie Gott mich schuf“, lautet der Titel ihres eben erschienenen Buches.

Auf 240 Seiten beschreibt die tief gläubige Frau, die im Münchner Westen lebt und dort auch aufgewachsen ist, das schmerzensreiche Suchen und Finden der eigenen Identität. Sie wolle mit ihrem Buch Mut machen, „allen Widerständen zum Trotz den eigenen Lebensweg zu gehen“ und zeigen, „dass am Ende die Liebe gewinnt“, erzählt sie am Telefon. Geholfen hat ihr beim Schreiben Co-Autorin Claudia Heuermann.

Estner, eine elegante Erscheinung, die das kastanienrot gefärbte Haar offen und lang trägt, und Heuermann räumen dem Gefühlsleben der transidenten Frau in 22 Kapiteln viel Raum ein. Lange Passagen widmen sich dem Fremdeln in Liebesbeziehungen zu Frauen, zuweilen in mädchenhaft-romantischer Bildsprache. Die Abschnitte stehen im Kontrast zum äußeren Leben des einstigen „Simon“, der versucht, als Elektro-Ingenieur, Zeitsoldat und Mönch die eigene Rolle als Mann zu finden.

Ein Bild aus Klostertagen: Jahrelang lebte Estner als Mönch. (Foto: Privat)

Hilfe sucht Estner von klein auf auch im Glauben. Das christliche Umfeld, in dem das musisch begabte Kind aufwächst, erweist sich dabei in den wenigsten Fällen als unterstützend. Im Gegenteil: Noch immer müsse sie sich gegen konservative Vorurteile wehren, sagt die Christin. „Heute kann man ja alles sein, das sucht man sich doch aus“, werde ihr regelmäßig entgegengehalten. „Nein, Transidentität sucht man sich nicht aus. Das ist existenziell!“ Man hört, wie oft sie diesen Satz schon erwidert hat. Und wie lange sie sich mit Selbstzweifeln quälte: „Jesus Christus, warum bin ich so verkehrt?“

Mit „Bis in alle Ewigkeit“ ist das Kapitel über den körperlichen und seelischen Zusammenbruch Estners 2017 überschrieben. „Es gab nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder lebte ich als Frau – oder gar nicht mehr“. Im Buch konfrontiert die transidente Frau ihre Leserschaft mit allen Details des entscheidenden Schritts, der geschlechtsumwandelnden OP. „Ich hatte mich für die Methode entschieden, bei der neben Penis- und Hodenhaut auch ein Stück Harnröhrenschleimhaut in die Neovagina mitgenommen und eingenäht werden würde, um durch deren Feuchtigkeit ein scheidenähnliches Milieu zu erschaffen.“

Dass die 58-Jährige nun auch äußerlich eine Frau ist, empfindet sie als „eine Erlösung“. Nach den zwei geschlechtsangleichenden Operationen hat die Katholikin 2022 zum ersten Mal im Leben ihren Seelenfrieden gefunden. Der Weg dorthin raubte ihr fast alle Kraft. Die Ärzte diagnostizierten bei ihr Myalgische Enzephalomyelitis, chronisches Fatigue-Syndrom. „Müder geht kaum“, stand damals im SZ-Porträt. Sabine Estner lebt heute von einer kleinen Rente mit ihrer Mutter im elterlichen Haus, „mehr als mein Minijob mit 7,4 Wochenstunden geht gerade nicht“.

Sorge habe sie gehabt, erzählt sie, wie ihr Umfeld auf die erste große Veröffentlichung in der Zeitung reagiere. Und hat festgestellt: „hauptsächlich sehr wohlwollend und nicht feindselig.“ Viele hätten aber das direkte Gespräch gescheut, „das Meiste ging hintenrum“. Sabine Estner lacht ein hohes, dünnes Lachen. Der Weg zur breiten Akzeptanz ist nach wie vor weit. Die Gemeindeleitung der evangelischen Freikirche, die Estner die vergangenen fünf Jahre besuchte, habe sie gebeten, nicht mehr in die Gottesdienste zu kommen – einige Mitglieder würden sich an ihr als transidentischem Menschen stören. „Sie haben überlegt, opfern wir eine Person oder mehrere. Da haben sie sich für mich entschieden.“

Sabine Estner mit Claudia Heuermann, „Ich bin, wie Gott mich schuf“, Herder Verlag, 2024

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