Süddeutsche Zeitung

Zwei SZ-Autoren im Selbstversuch auf Herbergssuche:Draußen vor der Tür

Ebersberg gehört zu den reichsten Landkreisen in Deutschland. Was passiert, wenn man dort wie einst Maria und Josef um Obdach bittet?

Sophie Rohrmeierund Georg Reinthaler

Zwei Autoren der Süddeutschen Zeitung haben sich einen Nachmittag und Abend lang als Obdachlose ausgegeben. Auf ihrem Weg durch Baldham, Vaterstetten und einen kleinen Weiler im Landkreis Ebersberg baten sie Menschen um Essen und Obdach. Hier beschreiben sie ihre Erfahrungen.

- Mit nassen Füßen, nach einigen Stunden in der abendlichen Kälte von innen heraus frierend, in zerschlissener Hose und einem Schlafsack in der Hand: So ziehen wir durch wohlhabende Wohnviertel in Baldham und einen kleinen Weiler im Südosten des Landkreises. Ein Versuch nach dem Modell des biblischen Paares Maria und Josef, im Advent, der Zeit der Familie - und der Spenden. Wir wollen herausfinden, welche spontane Hilfe Obdachlose von ihren Mitbürgern im Landkreis Ebersberg, im wirtschaftlich starken Umland Münchens, erwarten können. In der Dunkelheit leuchten die Fenster und die weihnachtlichen Lichter in den Gärten. "Grüß Gott. Wir sind obdachlos und suchen einen Platz zum Schlafen." Ein leichtes Zurückzucken des Kopfes: "Aha, und wo wohnen Sie?" Eine typische Szene. Erstaunen, Unverständnis aus bloßer Überraschung - das ist die häufigste Reaktion auf die Frage nach Essen und Obdach.

Bei Anbruch der Dunkelheit machen wir uns auf den Weg. Auf der Durchreise, zu Fuß, wohnungslos - das ist für diesen Abend unsere Rolle. Unser Fußweg führt und zu den städtisch geprägten, gut situierten Einwohnern von Baldham einerseits und den Landwirten in einem kleinen Weiler andererseits. Zu Beginn sind unsere Bedenken noch riesig - etwa jene, ob unsere Rolle glaubhaft ist. Besonders aber hatten wir bei der Vorbereitung moralische Vorbehalte: Wir simulieren Not, als Journalisten, die jederzeit die Option auf die Rückkehr in ihr Leben haben. Die Anmaßung, Wohnungsnot und alle anderen Bedrängnisse, die damit verbunden sind, für einen Abend als Maske zu tragen, verlangt nach einer Rechtfertigung. Wir sehen sie im Zweck der Erkenntnis, die wir gewinnen wollen: Der Landkreis Ebersberg gehörte 2011 bei Kaufkraft und Wirtschaftsleistung in allen Statistiken zu den ersten in der Rangliste. Die Krise hat zwar die Kommunen erreicht, die über hohe Kosten und sinkende Einnahmen klagen. Doch die hohen Mietpreise etwa sind noch immer ein Zeichen des Booms im Münchner Umland. Wer "obdachlos* und Ebersberg" googelt, findet Artikel über die Sorgen eines Tierheims, nicht alle Tiere vermitteln zu können. Wir hoffen herauszufinden, wie schwer oder leicht es Bedürftige in dieser Region haben, bei Mitbürgern konkrete Hilfe zu erhalten. Also ziehen wir alte Hosen an, Wollpullover und Fellwesten sowie Jacken, die jenseits der Moden liegen. Es fällt uns schwer, zu bestimmen, was davon Klischee ist und was wahrscheinlich. Die Menschen jedenfalls, denen wir begegnen, glauben unseren Rollen, niemand zieht unsere Anliegen in Zweifel.

Etwas zu essen zu finden, ist am frühen Abend unser erstes Ziel. Auf einem Bauernmarkt in Vaterstetten wagen wir uns zum ersten Mal daran, jemanden in unserer Rolle anzusprechen. Noch wissen wir nicht, ob unser Äußeres überzeugend genug ist. Vor allem aber zögern wir aus einem anderen Grund. Es ist eine Überwindung, zu sagen: "Ich bin obdachlos." An einem Stand mit Backwaren, hell erleuchtet, stehen keine Kunden Schlange, dorthin wagen wir uns. Langsam und mit gesenktem Blick treten wir an die Theke, das ist das Verhalten, das wir instinktiv unserer Rolle zuschreiben. Wir sagen deutlich "Grüß Gott", das macht eine Verkäuferin mittleren Alters und ihre junge Kollegin auf uns aufmerksam, sie sehen uns zunächst freundlich an. "Was können wir für Sie tun?" Die Antwort "Wir sind obdachlos und wollten fragen, ob Sie vielleicht eine Wegzehrung für uns haben?" verändert die Gesichter schlagartig, die Mundwinkel fallen in die Horizontale. Die Verkäuferinnen wechseln Blicke, wortlos, unentschieden, abwägend. Doch noch bevor ein aufforderndes Nicken oder ein ablehnendes Kopfschütteln erkennbar wird, wendet sich die Ältere der beiden ab und räumt Glühweintassen weg. Die junge Frau dagegen handelt plötzlich, packt zwei Brezen und etwas Streuselkuchen in Tüten und reicht sie uns schweigend. Wir bedanken uns und verlassen den Markt.

Die nächste Station: die Filiale einer Supermarktkette. Das grelle Licht dort hebt uns in unseren dreckigen Jacken deutlich ab von den Feierabend-Einkäufern. Ein unbehagliches Gefühl, so bemerkbar zu sein und sich so schäbig zu fühlen, vor allem weil wir meinen, die Gedanken der anderen lesen zu können. In der Metzgereiabteilung reagiert die Verkäuferin auf unsere Bitte um eine Spende dezidiert: "Da können wir nichts machen." Der abschätzige Blick auf unsere beschmutzten Jackenärmel gleitet erst spät wieder zurück in unsere Gesichter. Schließlich finden wir Lagermitarbeiter des Supermarkts, die Pfandflaschen sortieren. Im Hintergrund stehen Einkaufswagen voller Süßigkeiten. Abgelaufene Lebensmittel habe er nicht für uns, sagt einer der Männer. "Bei uns geht alles retour." Hinter uns stehen zwei junge Kunden, die den knappen Dialog verfolgt haben - doch als sich dann unsere Blicke treffen, sehen sie beschämt zur Seite.

Weniger Beschämung oder Erstaunen, sondern blanke Ablehnung erfahren wir, als wir durch ein Viertel ziehen, in dem sich Wohnblöcke und kleine Einfamilienhäuser abwechseln. Das Schild "Betteln und Hausieren verboten" über dem Klingelschild eines Wohnblocks führt uns vor Augen, was wir tun - und anstatt einen Anruf bei der Polizei zu riskieren, gehen wir weiter zu einem Reihenhaus. Wir klingeln. Die Bewohnerin gibt uns Pralinen mit auf den Weg, nachdem sie uns in ihrem Hausflur warten ließ. In den Straßen in der Nähe des Baldhamer Bahnhofs, durch die wir unser Gepäck und unsere Figuren nun tragen, steht vor beinahe jedem der üppigen Gärten ein Oberklassewagen. Auch hier läuten wir und sagen, wir suchten einen Platz zum Schlafen. Eine Frau schreit: "Bei uns gibt's keinen! Wiederschau'n", und knallt die Tür zu. Eine andere, jüngere Frau will uns nicht in die Einfahrt treten lassen und ruft: "Also nein, ehrlich, ich feier' morgen eine Party, ich hab' gerade ganz andere Sachen im Kopf!"

Wir treffen auf eine Gruppe Jugendlicher, etwa 16 Jahre alt. Ihre Kleidung wirkt teuer, die Mädchen sind stark, aber gekonnt geschminkt, einer der Jungen trägt eine zerrissene Jeans - als Trend-Accessoire. "Geht doch in ein Hotel", sagt er, ehe er von seinen beiden Freunden schmunzelnd auf den Widerspruch in seiner Aussage hingewiesen wird: "Die haben doch kein Geld, Mann." Letztlich kann uns keiner der fünf Jugendlichen weiterhelfen und auch keinen Jugendtreff oder sonstige Initiative im Ort nennen, die uns in unserer Lage aufnehmen könnte. Die Hotelempfehlung bekommen wir nicht nur einmal.

Eine junge Frau lässt uns - ohne uns gesehen oder mit uns gesprochen zu haben - in eines der hellen, villengleichen Mehrfamilienhäuser im Zentrum Baldhams. Es war eine zufällig gewählte Klingel, die wir drückten. Die halb geöffnete Wohnungstür gibt die Sicht frei auf eine großzügig geschnittene, dekorierte Wohnung. Ein mit Weingläsern und Blumen gedeckter Tisch steht in der Mitte des Wohnraums. "Entschuldigung, wir sind obdachlos und wollten fragen, ob Sie vielleicht etwas zu essen für uns hätten?" Einen Apfel hätte sie noch, "wider Erwarten", antwortet die junge Frau und drückt uns zwei in die Hände. Eigentlich, sagen wir, seien wir auch auf der Suche nach einem Schlafplatz. "Da vorne wäre ein Hotel." Kurze Pause, in der sie registriert, wer dort eigentlich vor ihr steht. "Aber das kommt wohl eher nicht in Frage." Wo das Rote Kreuz, das sie uns als Anlaufstelle empfiehlt, zu finden sei, weiß die junge Frau allerdings nicht. "Viel Glück noch." In den Worten klingt eine neugierige Aufregung nach, die wir offensichtlich in diese Wohnung getragen haben.

Nun versuchen wir es in einem Hotel, in dem Bewusstsein, dass die Personen, deren Leben wir kurzzeitig führen, sich dort kein Zimmer leisten könnten. Die Hotellobby ist menschenleer, die Rezeptionistin freundlich. Dezent, ohne eine Miene zu verziehen, nimmt sie eine Klebenotiz: "Passen Sie auf, ich schreibe Ihnen den Code für die Tiefgarage auf." Wir könnten mit dieser Ziffernkombination zur Not den Ausgang benutzen, falls zugeschlossen würde. Wir sind von ihrer Hilfsbereitschaft mehr überrascht als sie über uns und unsere Ansinnen erstaunt zu sein scheint. In der Tiefgarage ist es merkbar wärmer als in der Winternacht draußen. Hier könnten wir durchaus eine Nacht verbringen, denken wir. Geschützt im Stall der Pferde der Moderne, der großenteils teuren Autos der Shopping- und Hotelkunden. Und registriert von den Überwachungskameras.

Die Rolle der beiden Obdachlosen mit fiktiven Biografien, die wir uns zu Recherchezwecken zugelegt hatten, rückt uns näher und wir identifizieren uns zunehmend mit den Figuren, je mehr Erfahrungen wir als "Maria" und "Josef" machen. In den engen Grenzen dessen, was wir uns unter dieser Not vorstellen können, bekommen wir zunehmend das Gefühl, dass uns die Antworten der Menschen wirklich betreffen, beinahe schon persönlich berühren. Als etwas Zeit vergeht, verwandelt sich diese gewachsene Identifikation in rationalere Überlegungen. Die Essenz dieses Prozesses bleibt schließlich: An diesem Abend konnte oder wollte uns niemand so weit helfen, dass wir irgendwo untergekommen wären. Niemand hat etwa versucht, uns an eine Herberge für Wohnungslose zu vermitteln.

Nur eine junge Frau überlegte konkret, wohin sie uns schicken könnte: die Tochter eines Mitarbeiters der evangelischen Kirche, an dessen Haustür wir läuteten. Die Teenagerin rief zunächst ihren Vater an, der auswärts war. Er lehnte deshalb ab, uns aufzunehmen. Die Tafel sei zu weit weg, meinte die junge Frau. Nur in München würden wir wohl etwas finden. Als wir vom Hof gingen, rief das Mädchen uns hinterher: "Viel Glück!" Sie klang besorgt.

Noch immer befinden wir uns in den Wohngebieten Vaterstettens. Vor Beginn unseres Weges hatten wir nichts anderes erwartet als Ablehnung. Zwar hatten wir Biografien vorbereitet, für den Fall, dass wir hereingebeten werden, zum Essen oder sogar zum Schlafen. Wahrscheinlich aber, so dachten wir, würden wir diese erst in einem der kleineren Dörfer auf dem Land brauchen. Woher unsere Vorstellung von den gastfreundlichen Landwirten, von einer warmen Bauernhofküche rührte, konnten wir nicht endgültig klären. Doch als wir den Ursprüngen der Bilder in unserem Kopf nachgingen, drängten sich zwei Erzählungen auf: Die Geschichten der Großeltern, die während des Zweiten Weltkriegs auf dem Land zum Hamstern gingen, wo die Bauern Eier und Milch hatten. Und die Geschichte von Josef und Maria, die im Stall bei den Tieren eine wärmende Unterkunft fanden.

In einem kleinen Weiler südöstlich von Ebersberg finden wir große Gehöfte, riesige bäuerliche Wohnhäuser mit Fensterfronten von 30 Metern, daneben entsprechend große Ställe und Maschinenhallen. Der stattlichste Hof, der von der Straße aus zu sehen ist, hat eine Haustür doppelt bis dreifach so breit wie eine übliche. Der junge Hofbesitzer öffnet, er steht in T-Shirt, kurzer Hose und barfüßig vor uns, was uns, die wir in nassen Schuhen im Schnee stehen, eine Fußbodenheizung erahnen und erhoffen lässt. "Da wüsst' ich nicht, wo was wär'", antwortet der Mann auf unsere Frage nach einer Unterkunft. Wir fragen konkreter, nach einem Platz in der Maschinenhalle oder im Stall. "Bei uns is' nix." Wir geben auf. Zumindest einen weiteren Hof wollen wir aufsuchen, damit eine einigermaßen haltbare Aussage über das Verhalten der Landwirte möglich ist. Wir suchen nach dem Eingang zu einem kleineren Haus unterhalb der Kirche der kleinen Ortschaft. Auf unser Läuten hin lässt zunächst nur jemand einen Hund an die Glasscheibe der Haustür, er bellt uns von innen an. Schließlich erscheint ein alter Mann, nimmt etwas vom Schlüsselbrett. Wir können nicht sehen, was sich dort befindet, haben aber ein ungutes Gefühl. Doch der Mann steckt nur von innen den Schlüssel ins Schloss - sperrt zu und geht. Der Hund bleibt, kläffend. Wir warten weiter. Als wir nicht verschwinden, kommt der Mann zurück, öffnet die Tür und tritt heraus. Er sagt kein Wort, der Hund dagegen springt uns um die Füße. Er habe keinen Platz für uns, gibt der Mann uns letztlich einsilbig zu verstehen. Auch nicht in der Maschinenhalle, die sei nicht geheizt. Der Einwand, draußen sei es auch nicht wärmer, bringt den Mann nur zum Schulterzucken, er schickt uns weiter.

Am Ende unseres Weges haben wir zwei Brezen, ein Stück ziegelsteinharten Blechkuchen, zwei Äpfel - und die Erfahrung, dass der Satz "Wir sind obdachlos" auch beim 15. Mal nicht leichter über die Lippen kommt. Es bleibt unklar, ob unser Verhalten zwischen Beschämtheit und Offenheit uns glaubwürdiger gemacht hat oder ob die Menschen, denen wir begegneten, einfach keine Vergleichsmöglichkeiten haben mit anderen Obdachlosen.

Bei einer Reportage wie dieser ist die Frage berechtigt, wie realistisch die inszenierte Situation ist. Darauf gibt es zwei Antworten: Einerseits gibt es tatsächlich auch im Landkreis Ebersberg Wohnungslose, die nach einer Unterkunft suchen. Andererseits wählen diese nicht immer, aber meist andere Wege als wir während unserer Recherche. Dennoch: Wir hielten die direkte Konfrontation zwischen Menschen, die sich sonst kaum begegnen, für sinnvoll. Unser Ziel war nicht, die Situation und Entscheidungen von Wohnungslosen nachzuvollziehen. Vielmehr ging es darum, wie andere darauf reagieren und ob sie Hilfe anbieten. Hilfe, die auch im Landkreis Ebersberg nötig ist.

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Quelle:
SZ vom 24.12.2012
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