Zwei Konzerte in Sicht:Analysen, die Emotionen wecken

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Aufgewachsen ist Harald Müller in den tiefsten Tiroler Bergen - und ausschließlich mit klassischer Musik. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Harald Müller komponiert für Chöre und Instrumentalensembles, entwickelt Musik für Drehorgeln und spielt in einer Coverband

Von Alexandra Leuthner

Harald Müller aus Grafing macht Musik. Nein, eigentlich konstruiert er Musik. Und er liebt es, sie zu dekonstruieren. Das Mathematische an der Musik interessiert ihn. Einmal hat er sich hingesetzt, um ein Drehorgelstück aufzuschreiben, von dem er unbedingt wissen wollte, wie es funktioniert. Ein oder zwei Tage habe er gebraucht, "für fünfzehn Sekunden Musik", erzählt er. Heute baut er selbst Drehorgeln, fertigt Papierrollen, in die er Kerben so hineinstanzt, dass die Pfeifen an den richtigen Stellen im Stück angesteuert werden, und reiht sich damit ein in eine kleine Gemeinschaft von Freaks, die auch so etwas tun. "Da gibt es vielleicht 25 auf der Welt", schätzt Müller. Beim Drehorgelfestival im Breisgau, da trifft man solche Leute. Natürlich ist er hingefahren und hat sich das angeschaut.

Der 57-jährige Müller mag es gern ein bisschen schräg, "viel zu oft ist Musik das, was Musik immer schon war", sagt der gebürtige Österreicher. Immer die gleichen Stücke in der Oper, immer derselbe Klassik-Kanon im Konzert, "immer dieselben 18 Psalmen" in der Kirche, "irgendwann reicht's." Also hat Müller, der eigentlich Ingenieur ist und Apothekensoftware entwickelt, eines Tages angefangen, selbst zu komponieren - in der S-Bahn. "Das Komponieren", sagt er "das ist so eine Nische für mich, aber ich hab' das Gefühl, da passiert zu wenig." E-Musik werde zwar viel geschrieben, aber Musik für Chöre oder Flötengruppen, wie er sie aufs Notenpapier bringt, davon gebe es zu wenig. Für das im Landkreis beheimatete Ensemble Musica Varia unter Cornelia Grünbach komponiert er, auch für den Chor der evangelischen Kirchengemeinde Grafing/Glonn unter der Leitung von Rita König. Sie sei für ihn, den Autodidakten in Sachen Komposition, zugleich Auftraggeberin - "Wie wär's mit einem verjazzten Bach?"- wie Korrektiv: "So wird das der Bass nicht singen können." Als Müller vor einigen Jahren gefragt wurde, ob er nicht im Kirchenchor mitsingen wolle, habe er gesagt: "Nur wenn ihr ausprobieren wollt, was ich schreibe." So hat alles angefangen.

Wenn Müller sich etwas vornimmt, gibt er so leicht nicht auf. Vermutlich ist es mit dieser Hartnäckigkeit zu erklären, dass er vor ziemlich genau zwei Jahren die Bayerische Eisenbahngesellschaft dazu gebracht hat, an drei zwischen Rosenheim und München verkehrende Meridian-Züge ein paar zusätzliche Waggons zu hängen, weil sie ständig überfüllt waren. Müller weiß ein Lied davon zu singen, pendelt er doch täglich von Grafing nach Starnberg und wieder zurück, eineinhalb Stunden einfach. Viel Zeit also zum E-Mail-Schreiben. Wie die sich angehört haben, kann man sich gut vorstellen: Harald Müller ist einer, der in seinem gemächlichen österreichischen Dialekt alles in seine Einzelteile zerlegen kann - mit Sicherheit auch die Argumentation der Bahn.

Die gelassene Beharrlichkeit, ebenso wie seine analytische Liebe zur Musik, hat der Vater von drei Kindern, der seit zehn Jahren in Eisendorf zu Hause ist, wohl aus seiner Heimat mitgebracht. Aus den "tiefsten Tiroler Bergen" stammt er und ist ausschließlich mit Klassik aufgewachsen. Als Kind lernte er Klavier, später Orgel. Seine Mutter, eine ausgebildete Sängerin, übte jeden Tag Schubertlieder und Mozartarien. Mit 16, erzählt Müller, habe er sämtliche Beethoven-Sinfonien in und auswendig gekannt, "wenn ich mich wirklich konzentrieren will, höre ich mir Haydn-Sinfonien an." Zum Entspannen geht er ganz gerne zu einem Blasmusikkonzert. Und wenn er eine Herausforderung sucht, verjazzt er schon mal ein Kirchenlied oder schreibt eine Parodie auf Helene-Fischer-Hits. Und dann ist er auch noch Mitglied der Band Bue Delight, die mit Songs der 60er und 70er Jahre auftritt. Seit einigen Jahren spielt er Piano in der vierköpfigen Formation aus Uwe Peters (Gesang), Thom Lauber (Gitarre) und Karl Kneidl (Schlagzeug) - und betrachtet die Abende, die er in verschiedenen Locations im Ebersberger Raum verbringt, als hervorragende Gelegenheit, "ein kulturell interessantes Phänomen" zu studieren: "Wie sehr Menschen die Musik in ihre Lebenskultur mit hinein nehmen", das fasziniert den Ingenieur, der sagt, Musik bestehe aus zwei Dingen: "Die eine Seite ist Sport, die andere die Ingenieursseite". Das Bauen des musikalischen Hauses um die Grundidee herum, also das Finden einer Melodie, ihre Wiederholung und Abwandlung, angereichert mit Akkordfolgen. "Und dann nehmen Sie Chopin, die Klavierkonzerte der Romantik: Das ist doch pure Challenge, so etwas zu spielen. Da geht's darum zu beweisen, ob ich etwas zusammenbringen kann, was noch keiner geschafft hat." Aber natürlich, räumt er ein, "gebe es ja Leute, die behaupten, Musik hätte etwas mit Emotionen zu tun."

So sei er an den Abenden mit Blue Delight vermutlich der Einzige im Raum, der die Musik, die er selbst spielt, nicht von Jugend an kennt - etwa Procul Harum, Progressive Rockband der späten 60er Jahre. "Ich hatte bis vor fünf Jahren noch keine Ahnung, wer das ist. Musikalisch großartige Sachen haben die gemacht." Aber während er die Kompositionen bewundere, die ihn an Dieterich Buxtehude erinnern - musikalisches Vorbild Johann Sebastian Bachs, der vor mehr als 300 Jahren, "Akkordgags an der Grenze zu dem geschrieben hat, was in der Harmonielehre erlaubt war" - gehe es für die Gäste vor allem um die Nostalgie, die Erinnerung an Situationen, in denen sie die Stücke in jungen Jahren gehört haben.

Müller hat jahrelang überhaupt keine Musik gemacht. Als Achtzehnjähriger ging er zum Studieren nach Wien, wo ihn der Weg aus einem evangelischen Studentenwohnheim gelegentlich als Aushilfsorganist in eine Kirche geführt hat. Anschließend verschlug ihn ein berufliches Engagement bei Siemens für Jahre in die USA, dann nach München. 1999 zog er dann mit Frau und Kindern in eine Doppelhaushälfte in Grafing. Vor acht Jahren habe ihn seine Tochter gebeten, nach Geige und Klavier auch noch Kirchenorgel lernen zu dürfen. "Da sind wir zum Pfarrer und haben nach dem Schlüssel gefragt. Sie musste ja irgendwo üben", erzählt er. Als Gegenleistung spielt der 57-Jährige in Grafing immer wieder Orgel und versucht, die Kirchengemeinde beim Gottesdienst mitzureißen. Er liebt es, seinem Publikum zu beweisen, dass Kirchenmusik nicht immer alt und klassisch sein muss, "Singet dem Herrn", das könne man doch auch gut als Jazzversion spielen. "Der Liebe Gott wird das hoffentlich für richtig halten."

Beim Sommerkonzert des evangelischen Kirchenchores Grafing/Glonn am Sonntag, 7. Juli, um 17 Uhr auf Schloss Zinneberg sowie am Samstag, 13. Juli, um 19.30 Uhr in der Auferstehungskirche in Grafing ist Harald Müller am Klavier zu hören. Am Freitag, 12. Juli, um 15 Uhr spielt das Ensemble "Musica Varia" (vier Blockflöten und eine Gambe) im Seniorenhaus Grafing einige neue Kompositionen von ihm.

© SZ vom 04.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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