Süddeutsche Zeitung

Zorneding:Angst vor einem Kratzer

Die Pöringer "Naturkinder St. Georg" stellen bei einer Fachtagung für Pädagogen ihren Abenteuergarten vor. Erzieherinnen und Landschaftsplaner wissen aber auch, dass nicht alle Eltern von solchen Konzepten begeistert sind

Von Viviane Rückner, Zorneding

Verschlungene Pfade, Feuerstelle, Hängematten, ein großes Baumhaus, Amphitheater, Indianerzelt, Klettergarten und eine große Spielmulde mit Wasserspielzone - die "Naturkinder" von St. Georg, einer Kita in Pöring, haben das Paradies gepachtet. Die unzähligen Pflanzen und Kräuter sowie Kies- und Wasserwege sind, auch wenn alles aussieht wie natürlich gewachsen, feinsäuberlich angelegt worden. "Heutzutage muss man Kindern Naturerlebnisse fast künstlich geben", erzählte der promovierte Grünplaner Reinhard Witt bei einem Rundgang durch den Garten.

Wie man Kindern die Natur nahebringen kann, war Thema einer Fachtagung in St. Georg, die sich an Pädagogen und Erzieher, aber auch an Stadtplaner richtete. Mit geschätzten 60 verschiedenen Pflanzenarten wurden in der Pöringer Kita nicht nur Bastelmaterialien und Strukturen geschaffen, mit jeder Pflanze siedeln sich im Schnitt zehn Tierarten an, wodurch im Kindergarten eine große Artenvielfalt vorherrscht - unzählige Insektenarten und Vögel. Pädagogisches Ziel ist es, den Kindern die Achtung vor jeder einzelnen Pflanze beizubringen und das Bewusstsein für die Umwelt zu wecken.

Doch die Pflanzen und Kräuter sind für Kinder nicht die Hauptattraktion in ihrem Naturgarten. "Es gibt keine andere Materie, mit der sich Kinder länger beschäftigen können als Wasser", berichtete Helmut Hechtbauer, Fachberater für Naturspielräume, den Teilnehmern der Tagung. Matsch - die faszinierende Kombination aus Sand und Wasser, wecke in Kindern den Forscherinstinkt. "Wir sollten immer schauen, ob wir Spielverderber sind, wenn wir zum Beispiel früher wieder ins Haus gehen wollen und damit die Forschung und mögliche Erfolgserlebnisse der Kleinen unterbrechen", mahnte Hechtbauer.

Cecilia Tites von der Bayrische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege, die die Veranstaltung organisiert hatte, freute sich über das große Interesse an dem Thema. "Es konnten nicht alle, die sich angemeldet hatten, teilnehmen, da wir nur 100 Plätze vergeben konnten", sagte sie. Dabei sei der Termin in Pöring bereits die fünfte Veranstaltung dieser Artgewesen. Tites kündigte deshalb an, weitere Tagungen zu dem Thema zu organisieren.

Ein Problem, auf das bei der Tagung allerdings auch hingewiesen wurde, sind die sogenannten Helikoptereltern. "In der heutigen Gesellschaft wird die völlige Unversehrtheit gefordert, wodurch die Kinder keine Chance mehr bekommen, Risikokompetenzen zu entwickeln", erklärte Hechtbauer. Verletzungen gehörten aber zwangsläufig zum erfolgreichen Lernprozess dazu, ohne Risiko könnten keine Risikokompetenzen erlernt werden und ohne Unebenheiten auch keine motorischen Fähigkeiten. Erwachsene müssten den Kindern Freiraum für Erfahrungen bieten. "Meistens machen sich Eltern zu viele Gedanken über Szenarien, die nie eintreten werden, einfach aus Angst", sagte der Fachberater. "Dabei brauchen Kinder die Zeit zum Erforschen, um Selbstbewusstsein durch eigenständiges Handeln und Erfolgserlebnisse zu entwickeln."

Natürlich dürften die Bedenken der Eltern nicht übergangen werden, sagte die Leiterin des Kinderhauses St. Georg, Gaby Lindinger, es sei aber auch notwendig, dass die Erzieher und Erzieherinnen selbstbewusst den Eltern gegenüberstehen, um diesen klar zu machen, dass den Kindern nichts Gefährliches zustoßen werde. Kratzer oder auch kleinere Platzwunden seien jedoch nicht gänzlich zu vermeiden.

Bei den Pöringer "Naturkindern" werden Kinder gefördert, sich draußen in der Natur aufzuhalten - sie können am Lagerfeuer entspannen, im Amphitheater Theaterstücke proben, im Indianerzelt toben oder auf dem Klettergerüst turnen. Um auch bei der Gartenarbeit mithelfen zu können, benutzen die Kinder qualitativ hochwertige Arbeitsgeräte, wie zum Beispiel richtige Schnitzmesser, Spaten und Schaufeln statt Plastikspielzeuge. Dadurch lernten die Kleinen schon, mit solchen Geräten ordentlich umzugehen, so Lindinger.

In St. Georg setzt man beim Spielen konsequent auf analoge Erfahrungen statt auf virtuelle Welten. "Im Kindergarten haben Computerspiele und Animationen nichts verloren", sagte Lindinger. Ihr Computer werde höchstens dafür genutzt, das Mikroskop anzuschließen oder Wissenswertes zu googeln. Dass die Kinder sich die meiste Zeit des Tages im Freien aufhalten, helfe ihnen nicht nur dabei, sich zu entfalten und Kompetenzen zu erlernen, "es gibt auch weniger Konflikte und die Kleinen sind ruhiger und ausgeglichener", berichtete auch Erzieherin Christina Braun. Eine beruhigende und ausgleichende Wirkung hat die Natur bekanntlich selbst auf Erwachsene, so Lindinger.

Am Ende der Veranstaltung wirkten die Beteiligten sichtlich begeistert von dem Konzept des Pöringer Kinderhauses. Sabrina Nitsche vom Bayerischen Rundfunk, die die Veranstaltung moderierte, fasste am Ende das Ziel prägnant zusammen: "Hoffentlich übernehmen einige Institutionen ein paar Anregungen von heute und helfen dabei, eine Gemeinschaft mit anderen Kinderhäusern mit Naturgärten zu bilden."

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Quelle:
SZ vom 09.05.2017
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