Süddeutsche Zeitung

Rad vs. Bus/Bahn:Wettrennen durch den Landkreis Ebersberg: Pedale gegen Pferdestärken

Unsere Autoren Johanna Feckl und Simon Groß sind von Parsdorf nach Netterndorf gefahren - sie auf dem Sattel, er mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Über ein ungleiches Duell mit Herzschlagfinale.

Von Johanna Feckl, Simon Groß und Peter Hinz-Rosin (Fotos)

Es ist ein ungewöhnlicher Wettbewerb, zu dem sich die beiden SZ-Autoren verabredet haben. Die Ausgangsfrage lautet: Wie lässt sich der Landkreis schneller von einem der nördlichsten zu einem der südlichsten Punkte durchqueren - mit dem Radl oder mit Bus und Bahn?

Um vom Vaterstettener Ortsteil Parsdorf nach Netterndorf in Baiern zu gelangen, schlägt Google Maps vor, dreimal Bus und einmal Bahn zu fahren: Mit dem Bus nach Baldham und von dort mit der S-Bahn zum Grafinger Bahnhof. Weiter geht es mit dem Bus nach Glonn und von dort aus zum Endpunkt der Wettkampfroute nach Netterndorf. Insgesamt eine Strecke von 40,1 Kilometern.

Mit dem Radl dauert es laut Google eine Stunde und 52 Minuten. Die knapp 30 Kilometer lange Strecke mit immerhin 611 Höhenmetern führt über Baldham, am Rande der B 304 in Richtung Zorneding, dann weiter nach Süden durch die Ortsteile Buch und Schacht bis in die Gemeinde Glonn. Von dort geht es nach Piusheim, durch ein Waldstück hindurch und hinein in den Zielort. Es ist 12.52 Uhr. Los gehts!

Minute 2

Zwei Minuten später als der Fahrplan an der Bushaltestelle es vorschreibt, schiebt sich der Bus 466 in die Haltebucht am Dorfplatz in Parsdorf und öffnet die Türen. Der Fairness halber wartet die Radlerin neben dem Bus zum zeitgleichen Start. Im Bus sind alle Plätze frei, eine einzige Frau steigt auf halber Strecke zu. Sie sagt, sie fahre ausnahmsweise mit dem Bus, um ihr Auto vom Winterreifenwechsel abzuholen. "Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit nach Haar zu fahren lohnt sich für mich nicht. Der Bus fährt ja nur einmal die Stunde", sagt sie. Manchmal nehme sie das Rad, bei trockenen Verhältnissen. Aber an diesem Montag Ende Oktober regnet es. Radfahrer sind heute nicht zu beneiden.

Lange hält dieses befriedigende Grinsen, den Bus ein paar Meter hinter sich zu wissen, nicht an. Es geht links weg nach Hergolding, während der Bus weiter geradeaus fährt. Ohne den Gegner im direkten Blickfeld lautet die Devise jetzt: Stur in die Pedale treten, und ja nicht verfahren.

Minute 5

Auf der Parsdorfer Straße in Richtung Hergolding kommt es zum Wiedersehen: Da fährt sie, die Tapfere. Doch der Bus überholt sie mühelos. Bequem sitzt es sich im Trockenen, als alleiniger Passagier im warmen Bus. Ein kurzes Gefühl von Überlegenheit weicht dem schlechten Gewissen darüber. Ohnehin endet die motorisierte Dominanz spätestens an der Endhaltestelle nach einer Fahrtdauer von elf Minuten. Denn nun heißt es erst einmal: warten.

Rückstand! Der Bus mit dem Kollegen zieht linker Hand vorbei und verschwindet hinter einer Kurve. Mist. Der Tritt in die Pedale wird energischer.

Minute 19

In Baldham dauert es laut MVV-App 53 Minuten, bis der nächste Zug kommt. Zwei Minuten später fährt wider Erwarten eine S-Bahn Richtung Grafing ein, unerreichbar jedoch vom Parkplatz, der Endhaltestelle des Busses. Am Bahnsteig erklärt sich die Verwirrung, die Zuganzeige berichtet von einer technischen Störung auf der Strecke. Alles wie gewohnt also. Immerhin kommt der Zug nach Grafing nach einer knappen Stunde Wartezeit beinahe pünktlich, sodass der Anschluss nicht gefährdet ist. Auf dem Bahnhofsvorplatz fährt der Bus Richtung Glonn wie angekündigt um 14.15 Uhr vor. Der Busfahrer fragt zwei jugendliche Fahrgäste, ob sie mit der S-Bahn gekommen seien: "Fährt die überhaupt? Heute Morgen war schon wieder Chaos in München wegen dem Stellwerk. Aber das ist ja nichts Neues."

Nach nicht einmal sechs Kilometern taucht in der Ferne die Baldhamer Bahnunterführung auf. Durch den Fahrtwind hindurch sind S-Bahn-Gäste zu erkennen, die am Bahnsteig auf- und abgehen. Wer weiß, wie lange sie das tun, bis der nächste Zug einfährt. Macht sich da in der Bauchgegend etwa gerade Schadenfreude breit? Und zack, da ist es, das Karma. Denn prompt schnauft es sich umso beschwerlicher auf dem Sattel. Bei einem Fünf-Gänge-Gefährt reicht dafür die kleine Steigung nach der Unterführung schon aus. Jetzt ist Ehrgeiz gefragt: Die gesamte Strecke durchradeln - ohne Bergaufschieben. Eine Challenge in der Challenge.

Minute 41

Nach Buch geht es mit dem Rad bergab. Juhu! Auf halbem Weg leuchtet ein bekanntes blaues Auto am Straßenrand: Der SZ-Fotograf. Also Bremsvorgang einleiten. "Fahr zu, fahr zu", ruft er und winkt mit der freien Hand weiter in Fahrtrichtung. "Liegst gut in der Zeit!" So muss es sich bei der Tour de France anfühlen, wenn Fans neben der Wettkampfstrecke ausharren, klatschen und jubeln, während die Radler an ihnen vorbeipreschen. Das lässt den Adrenalinpegel in die Höhe schießen: Die Aussicht auf den Sieg blitzt vor dem inneren Auge auf. Finger weg von der Bremse! Jetzt nur nicht nachlassen! Die Füße treten in die Pedale, der Oberkörper sinkt weiter in die Waagrechte - der Windschnittigkeit wegen, so machen das die Profis schließlich auch. Das Röhren eines Lastwagens von hinten rückt näher - egal. Ein Schulterblick würde nur kostbare Zeit verspielen.

Minute 68

Auf der Fahrt von Grafing nach Glonn verdeutlicht ein Münchner Student, wo das Problem beim öffentlichen Nahverkehr liegt: Vergangene Woche sei er mit dem Bus nach Höhenkirchen gefahren, um von dort aus mit der S-Bahn weiter nach München zu gelangen. Da diese jedoch nicht kam und der nächste Bus zurück erst wieder zu den Stoßzeiten fuhr, saß er dort fest. "Der Bus ist zuverlässig bei jedem Wetter, aber die S-Bahn fällt halt immer aus", beklagt der junge Mann. Dabei hat er drei Möglichkeiten, von Glonn nach München zu kommen: Außer nach Höhenkirchen kann er mit dem Bus auch nach Grafing oder Neuperlach fahren. Aber dort muss er auf U- oder S-Bahn umsteigen - und da hapere es eben. Eine tolle Idee seien die "Mitfahrbankerl", findet der Student. Auf die fest installierten Bänke können sich seit vergangenem Jahr Personen setzen, die von vorbeifahrenden Autos mitgenommen werden möchten. "Aber die Leute halten leider nicht an", zeigt sich der Glonner enttäuscht. Am Ende bleibe einem ohne Auto doch nur der Bus auf dem Land. Und der ist zwar zuverlässig, braucht aber auch länger, weil er eben jeden noch so kleinen Ort auf dem Weg ansteuert. "Mit dem Auto kommst du schneller ans Ziel und bist unabhängiger, außerdem ist es oft günstiger. Dabei wäre es für die Umwelt deutlich besser, wenn mehr Leute Bus fahren würden."

Minute 97

Von Glonn bis nach Netterndorf ist es mit dem Radl ein Katzensprung. Der Bus soll erst in gut 30 Minuten am Ziel ankommen. Mit dem sicheren Sieg im Kopf, beginnt nun endlich das Genussradeln. Nach Piusheim soll ein Weg rechts abführen, der nach einem letzten Berg in die Zielstraße mündet. Aber es kommt keine Abzweigung. Ein Blick auf Google Maps verrät: Zu weit geradelt. Verdammt! Also noch einmal zurück, das GPS-Signal auf dem Handy immer im Blick, bis zur richtigen Gabelung. Ist der Sieg jetzt doch wieder in Gefahr? Zum Überlegen, ob dieses schmale Etwas mitten im Wald tatsächlich eine gute Option für ein Rad ist, das wohl deutlich älter als seine Besitzerin ist, bleibt keine Zeit. Es geht hinein auf diesen laubbedeckten Pfad, der mehr einer Rutschbahn gleicht, als einem richtigen Weg. Nach mehreren Kratern gefüllt mit Matsch und Blättern folgt ein unebener Abschnitt, bergauf, auf nassem Laub. Zu viel für das alte Fünf-Gänge-Schnauferl. Schieben heißt es jetzt. Damit ist die erste Challenge verloren. Und der Sieg in der zweiten rückt mit diesem Zeitverlust plötzlich in weite Ferne.

Minute 101

Ein letzter Umstieg in Glonn, bevor die Endhaltestelle Netterndorf erreicht ist. An der Bushaltestelle sitzen ein paar Buben, sie spielen mit ihren Tretrollern. Jeden Tag fahren sie mit dem Bus, um zu ihrer Schule in Ebersberg zu gelangen. Sie müssten zwar früh los, aber der Bus komme jeden Morgen zur gleichen Zeit. Auch dieser Bus der Linie 411 kommt pünktlich, diesmal steigen gar keine anderen Mitfahrer ein.

Minute 111

So schlimm war es dann doch nicht. Der Fußmarsch ist schnell überstanden, ein paar Minuten geht es noch bergab und dann, nach 119 Minuten, ist sie erreicht, die Bushaltestelle Netterndorf: Das Ziel. Vom Kollegen ist noch nichts zu sehen.

Minute 123

Das Wettrennen ist verloren, nur die idyllische Landschaft entschuldigt für die Niederlage. Beim Ausstieg nach 130 Minuten in Netterndorf wird es noch einmal kurz spannend: Der Busfahrer hat seinen einzigen Fahrgast übersehen und will wie zuvor die Haltestelle überfahren. Wer könnte es ihm bei der Anzahl an Fahrgästen verdenken? Auf Zuruf reagiert er aber schnell - und öffnet die Tür.

Die Lokalausgaben der Süddeutschen Zeitung suchen im Oktober gemeinsam mit dem MVV den Busfahrer oder die Busfahrerin des Jahres. Teilnahmecoupons liegen in allen Regionalbussen aus. Ihren Favoriten oder ihre Favoritin können Fahrgäste aber auch per Mail vorschlagen: busfahrer-aktion@mvv-muenchen.de.

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Quelle:
SZ vom 30.10.2019/koei
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